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Aktuelle Rezensionen


Klaus Roth/Asker Kartarı (Hgg.)

Cultures of Crisis in Southeast Europe. Part 1: Crises Related to Migration, Transformation, Politics, Religion, and Labour

(Ethnologia Balkanica 18/2015), Berlin 2016, LIT, 409 Seiten mit Abbildungen, Tafeln, Grafiken
Rezensiert von Sebastian Kurtenbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.04.2018

Die im LIT-Verlag erscheinende Zeitschrift Ethnologia Balkanica wird im 18. Jahrgang von Klaus Roth (München) und Asker Kartarı (Istanbul) herausgegeben und führt Beiträge aus der 7. Konferenz der International Association for Southeast European Anthropology auf, welche vom 18. bis 21. September 2014 an der Kadir Has Universität in Istanbul stattfand. Hier liegen zwei Ausgaben vor und die vorliegende Rezension bezieht sich einzig auf den ersten Teil: „Crises Related to Migration, Transformation, Politics, Religion, and Labour“. Die Publikation ist in vier thematische Abschnitte unterteilt und umfasst 22 Beiträge. Der erste Abschnitt bespricht konzeptionelle Themen. Der zweite Abschnitt ist unter den Titel „Migration und Diaspora“ gestellt. Der dritte Abschnitt umfasst Artikel zu den Themen Gesellschaft, Religion und Politik. Im vierten Abschnitt werden Studien zu Arbeit und Arbeitsbeziehungen zusammengefasst. Neben dem Vorwort wird aus jedem der Abschnitte im Folgenden ein Beitrag näher besprochen.

Das knapp gehaltene Vorwort der Herausgeber ist in Englisch und Deutsch verfasst, alle weiteren Artikel wurden auf Englisch publiziert. Im Vorwort heißt es, dass sich die Diskussion nicht um Krisen und ihre Ursprünge dreht, sondern wie Menschen auf diese reagieren. Eine solche Perspektive erscheint angebracht und innovativ und insbesondere die Anthropologie kann einen grundlegenden Beitrag leisten, wie Menschen mit Krisen umgehen.

Christian Giordano (Fribourg) diskutiert in seinem theoretisch-konzeptionellen Beitrag kritisch die Verwendung des Begriffspaars transition/transformation sowie crisis. Zu Transformation stellt er klar, dass er erstens eine Veränderung ost- und südosteuropäischer Gesellschaften dahin gehend meint, dass sie westeuropäischen Gesellschaften ähnlicher werden sollten. Aus dieser Perspektive, die mit klaren Argumenten in Bezug auf politische Praxis als auch gesellschaftliche Diskurse eingeleitet wird, ist der Begriff als eurozentristisch zu bewerten. Das zweite Argument kritisiert die Verwendung des Wortes Krise und wirkt sogar noch schwerwiegender, da Giordano im Grunde sagt, dass es sich um einen entleerten Begriff handelt, der beliebig benutzt wird. „In fact, the term transformation offers a very convenient formulation because it reveals nothing about the specificities of significant changes occurs after the fall of the Berlin Wall. In the end, any event in Eastern Europe between 1989 and 2014 can be lumped together under the label of transformation.“ (31) Auch der Krisenbegriff leidet unter der schwammigen Verwendung und auch hier findet sich eine eurozentristische Sichtweise. Der Einwand von Giordano ist, dass der Abstieg Europas im internationalen Wettbewerb als schmerzlich und krisenhaft empfunden wird. Damit wird der Krisenbegriff auch anschlussfähig als Prozessbegriff und ist nicht einzig als Reaktion auf ein Ereignis zu verstehen. In seiner weiteren Analyse stellt er klar, dass Symptome, die mit Transformation und Krise verbunden werden, wie ein verbreitetes Misstrauen gegenüber öffentlichen Institutionen, länger in den Gesellschaften Südosteuropas verwurzelt sind als es die Argumentationen, die auf den Wandel von sozialistischen hin zu demokratischen und kapitalistischen Staaten abzielen, glauben machen wollen. Giordanos Argumentation ist an dieser Stelle des Buches gut platziert, denn sie eröffnet eine prozesshafte Perspektive auf Krise und warnt vor dem Pathos der Transformationsrhetorik, die es in Arbeiten zu Südosteuropa häufig gibt, und folgt zugleich der grundlegenden Argumentation, wie sie von den Herausgebern formuliert wurde: die Reaktion auf Krise zu untersuchen.

Ivaylo Markov (Sofia) schreibt über „Migration. Trans-Locality and Social In(Ex)clusion“ am Beispiel albanischer Migranten. Im Kern befasst sich seine Ausarbeitung mit Identitätskonflikten von Transmigranten und folgt auch der üblichen Argumentation solcher Arbeiten. Den theoretischen Unterbau liefern sowohl die Netzwerktheorie als auch die der Transnationalisierung, die der Autor aber leider nicht miteinander verknüpft. Dem Beitrag hätte auch die Auseinandersetzung mit transnationalen Sozialräumen als Rahmenkonzept geholfen, da dadurch die Verbindungen zwischen Menschen und Orten über Grenzen hinweg in den Blickpunkt genommen worden wären. Anschließend beschreibt Markov seine Daten, die aus 35 Interviews und mehreren kurzzeitigen Feldforschungsepisoden bestehen. Es folgt ein kurzer Abriss über die Migrationsgeschichte makedonischer Albaner, die zeigt, dass (Arbeits-)Migration dort ein klassisches Verhaltensmuster ist. So informativ der Abschnitt ist, er trägt doch relativ wenig zum Erkenntnisgewinn der Arbeit bei. Hieran schließt sich die solide und insgesamt gelungene empirische Untersuchung an. Im ersten Abschnitt beschreibt Markov unterschiedliche Rituale und Symbole während des Prozesses der Migration. Im zweiten Abschnitt wird herausgearbeitet, dass viele Migranten zwar alleine ins Ausland gehen, um zu arbeiten, dort aber häufig auf Freunde oder Verwandte treffen. Hier wird auch klar, wieso sich der Autor in der theoretischen Rahmung seiner Arbeit für die Netzwerktheorie entschieden hat, wenn auch die Analyse, vor allem aufgrund des vorhandenen empirischen Materials, oberflächlich bleibt. Der dritte Unterabschnitt dreht sich um die transnationale Lebensweise von Migranten aus Makedonien. Ein Beispiel sind die renovierten Häuser der Familien von Transmigranten – ermöglicht durch Geldüberweisungen Letzterer. Solche Symbole sind wichtig, um den Erfolg von Transmigranten zu zeigen. Erfolgreich ist, wer am Herkunftsort ein gutes Leben hat oder seiner Familie ermöglicht, nicht wie es ihr oder ihm am Ort geht, an dem sie oder er arbeitet, was ein bemerkenswertes Ergebnis ist. Der letzte Unterschnitt thematisiert Identitätskrisen von Transmigranten, wobei die Angst besteht, dass die eigenen Kinder die kulturellen Wurzeln verlieren würden und kein Albanisch lernen. Der Beitrag schließt mit einem sehr kurzen und leider zu knappen Fazit. Hier wäre es notwendig gewesen, die Ergebnisse zu einem klaren Gesamtbild zusammenzusetzen und nun auch mit dem so unverbunden dastehenden historischen Abschnitt zu verknüpfen. Die Leistung von Markov besteht so besonders in den detaillierten Beschreibungen transnationaler Praxen.

Marija Mandić (Belgrad) untersucht mit einem diskursanalytischen Zugang die Rahmenbedingungen während der Ausschreitungen gegenüber der Bajrakli Moschee in Belgrad im Jahr 2004. Der Beitrag beginnt mit einer ausführlichen Darstellung der Geschichte des muslimischen Lebens in Belgrad, mit einem Schwerpunkt auf die Zu- und Abnahme der Anzahl an Moscheen in der Stadt. Anschließend werden die Ereignisse des Pogroms nachskizziert und Schlagzeilen von fünf serbischen Tageszeitungen ausgewertet. Mandićs Ausarbeitung ist fokussiert, was sie gut lesbar macht, und verliert sich nicht in der Darstellung von Details. Vielmehr liegt der Schwerpunkt auf der wechselseitigen Dynamik zwischen Ereignissen und Medienberichterstattung, vor allem der Printmedien. Hier ist zu erkennen, welche Machtinteressen hinter dem Diskurs stehen. So heißt es im Fazit: „Obviously, there was a lack of political will on the part of Serbian authorities to investigate and prosecute the responsible for the arson attacks against the mosques.“ (300) Alles in allem liefert der Beitrag gute Einblicke in die wechselseitige Verflechtung zwischen gewaltsamem Handeln und öffentlichem Diskurs, mitsamt einer historischen Einordnung. Ein wenig irritiert, dass der Beitrag die Ursachen von Krisen thematisiert, welche laut des Vorworts der Herausgeber im vorliegenden Band eigentlich nicht im Fokus stehen sollten.

Dražen Cepić (Birmingham) untersucht in seinem Beitrag den Wandel der Arbeiterklasse in Kroatien, wobei er sich vor allem auf die Herausforderungen der Selbstorganisation des Privatlebens beschränkt. Dabei werden Handlungsmuster von Menschen deutlich, wie sie mit der Krise auf dem Arbeitsmarkt umgehen, welche sich während des Wandels von der sozialistischen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung zeigen. Die empirische Grundlage sind 17 Interviews, die zwischen 2009 und 2011 geführt wurden. Cepić bezieht sich im Wesentlichen auf drei Felder. Erstens auf Freundschaften, die sich nicht mehr an der Klassenzugehörigkeit entlang organisieren, sondern nach Interessenschwerpunkten und durch Eigeninitiative entstehen. Zweitens sind die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung nun auch an wirtschaftliche Ressourcen gebunden. Das führt dazu, dass es zunehmend zu einer selbst organisierten Freizeitgestaltung kommt, die ein höheres Maß an Auswahl und Organisationsleistungen bedarf. Außerdem werden nun weite Teile der Freizeit alleine verbracht, da keine Angebote bestehen, die man auch nachfragen kann oder will. Drittens gewinnen durch die veränderte Rolle der Gewerkschaften neue Solidargemeinschaften an Bedeutung. Cepić führt hier ein Interview mit einem Mann an, der in einem Vorort von Zagreb ein Haus gekauft hat und von seinen Nachbarn bei der Renovierung der Immobilie unterstützt wurde. Diese soziale Gruppe ist für den Interviewpartner zu einer emotional wichtigen Bezugsgruppe geworden. Der Autor vermittelt ein eindrucksvolles und nachvollziehbares Bild der Herausforderungen, vor denen Menschen in empfundenen Krisenzeiten in Südosteuropa stehen, welche wiederum durch den Wandel der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verursacht wurden.

Den Herausgebern ist es gelungen, eine Vielzahl von Beiträgen zusammenzustellen, welche auf unterschiedliche Facetten des Umgangs von Menschen mit Krisen in Südosteuropa eingehen. Die Lektüre des Bandes ist somit empfehlenswert für alle diejenigen, die sich für gesellschaftliche Prozesse in Südosteuropa interessieren, was auch für eine Leserschaft über die Anthropologie hinaus gilt