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Eva Brugger
Gedruckte Gnade. Die Dynamisierung der Wallfahrt in Bayern (1650-1800)
(Kulturgeschichten. Studien zur Frühen Neuzeit 4), Affalterbach 2017, Didymos, 254 Seiten mit 6 Abb.Rezensiert von Walter Hartinger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.03.2018
Ja, es ist gut und richtig, wenn nicht nur vor allem Volkskundler und Theologen das Thema Wallfahrt analysieren (wie in den vergangenen Jahrzehnten), sondern auch Wissenschaftler anderer Couleur wie in diesem Fall eine Neuzeit-Historikerin, steht doch zu hoffen, dass durch die Anwendung anderer fachspezifischer Fragestellungen und Untersuchungsmethoden scheinbar endgültige Ergebnisse in Zweifel gezogen, modifiziert und ergänzt oder neue Aspekte erst sichtbar gemacht werden. Gefordert werden muss freilich – wie von jeder anderen ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Publikation auch -, dass sie auf den bisherigen Forschungs-Ergebnissen aufbaut, ihre eigene Untersuchungsbasis klar definiert, namentlich die Quellengrundlage sorgfältig absteckt und deren mögliche Aussagekraft kritisch hinterfragt. In diesen Hinsichten glaubt der Rezensent an der vorliegenden überarbeiteten Konstanzer Dissertation, erstellt im Rahmen eines Forschungsprojektes „Religion in der Differenz. Grenzziehungen und Konflikte in der Frühen Neuzeit“ und dieses wieder angesiedelt im Exzellenzcluster der dortigen Universität „Kulturelle Grundlagen von Integration“, Kritik üben zu müssen.
Das beginnt bereits an der Betitelung der Arbeit; die Dynamisierung der Wallfahrt in Bayern (1650-1800) ist keineswegs Untersuchungsgegenstand, sondern behauptete Voraussetzung, die nirgendwo thematisiert wird. „Gedruckte Gnade“ lässt im Insider eine Vermutung auf Mirakelbücher aufkommen (zu Recht, wie sich bald herausstellt, und die unverständlich konsequent dauernd zu „Mirakel- und Gnadenbüchern“ gebläht werden), doch deren Untersuchungsrichtung lässt sich für mich kaum fassen; als hier angestrebte angeblich „neue Perspektive“ „will dieses Buch die Wallfahrt als emergente Praxis beschreiben, die Gegenstand permanenter Verhandlungen war und immer erst im Vollzug hervorgebracht wurde“ (10). Diese Plattitüde rechtfertigt eigentlich keine ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema, und auch bezüglich des engeren Forschungsgegenstandes (den „Mirakel- und Gnadenbüchern“) weiß bereits die Einleitung das Ergebnis, nämlich, dass sie „in der bayerischen Wallfahrt des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts eine besondere Rolle“ gespielt haben für die „Pluralisierung und Diffusion göttlicher Gnade“, und das Ganze „unter medientechnischen und materiellen Aspekten“ (11). In diesem schwammig-diffusen Stil geht es dann über anstrengende mehr als 200 Seiten weiter.
Wie nicht anders zu erwarten, erfährt man dann zum Schluss, dass „anhand gedruckter Mirakel- und Gnadenbücher und Wallfahrtsanleitungen [...] göttliche Gnade mobil [wird], sie lässt sich im Gnadenraum verbreiten – und bringt diesen gleichermaßen hervor, steckt seine Grenzen ab und öffnet sie gleichzeitig ins potenziell Unendliche“ (228). Große Worte für Bücher, die in geringen Stückzahlen gedruckt und vermutlich zu einem Gutteil von studierten Geistlichen gekauft wurden und in deren Bücherschränken verstaubten. Gerade von einer Historikerin hätte ich mir erwartet, dass sie Reflexionen anstellt über Auflagenhöhen, Lesefähigkeit der betroffenen Gesellschaft, über die Tatsache, dass die allermeisten der barocken Nahwallfahrten es nie zu einem eigenen gedruckten Mirakelbuch geschafft haben, bevor sie sich äußert über die Wirkung der von ihr herangezogenen Beispiele, die einmal für Gesamtbayern, dann wieder hauptsächlich für Oberbayern, dann wieder bevorzugt für den Pfaffenwinkel typisch sein sollen.
Ärgerlichkeiten wie diese finden sich zuhauf. Die Vorstellung von der aufkommenden Dominanz der Gnadenbilder in der Barockzeit hätte sich leicht korrigieren lassen durch die Lektüre der regional einschlägigen Arbeit von Josef Staber (Volksfrömmigkeit und Wallfahrtswesen des Spätmittelalters im Bistum Freising. München 1955) oder von Hans Belting (u. a. Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990). Formulierungen über die „Anbetung“ von Reliquien und Gnadenbildern und deren Wirksamkeit (16, 205, 206) wären vermeidbar gewesen bei Kenntnis der epochalen Arbeiten von Lenz Kriss-Rettenbeck (u. a. Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. 2. Aufl. München 1971). Unverständlich bleibt mir auch, wie man wiederholt mit Ausführlichkeit auf die Wallfahrt von Maria Hilf im Lechfeld zu sprechen kommen kann, ohne auf die einschlägige umfangreiche Publikation von Alexandra Kohlberger (Maria Hilf im Lechfeld. 400 Jahre Wallfahrt. Augsburg 2003) zu stoßen.
Zu monieren sind handwerkliche Schludereien: Anna, eine „verarmte und deformierte Bettlerin“, erfährt gesundheitliche Besserung“ angeblich erst, „nachdem sie ihren ‚Mobilitätstyp‘ gewechselt hatte“, „nämlich als Wallfahrterin figuriert[e]“ (14). Und dies, nachdem eine halbe Seite vorher darauf hingewiesen wurde, dass sie wiederholt vorher zu Wallfahrtsorten mitgenommen worden war und dort sich als Bettlerin durchbrachte. Die Autorin behauptet, katholische Fromme habe Friedrich Nicolai an „einer spezifischen Falte am Munde“ erkennen können, obwohl in der ausführlich zitierten Stelle seines (satirischen) Reiseberichtes davon keine Rede ist (142). Die Vorstellung, dass „die Zeugnisse göttlicher Wirkmächtigkeit in ihrer Gesamtheit [...] am Wallfahrtsort [...] archiviert, verzeichnet und aufbewahrt“ (157) werden – im Unterschied zu deren Selektion in den „Mirakel- und Gnadenbüchern“ -, wird nicht nur vom gesunden Menschenverstand ad absurdum geführt, sondern auch durch die von der Autorin selbst herangezogenen Quellenzitate (u. a. 163).
Hätte die Autorin tatsächlich die von ihr im Literatur-Verzeichnis angegebenen Werke aufmerksam gelesen, hätte sie nicht den Anschein erregen können, als wäre die kritische Überprüfung neu aufkommender Gnadenorte durch die geistlichen Oberbehörden eine Besonderheit, „ein Bürokratisierungsschub“, des späten 18. Jahrhunderts gewesen (146); sie sind vielmehr gängige Praxis durch die Jahrhunderte hindurch und verweisen auf die latenten Spannungen zwischen den Bedürfnissen der Laien nach einer „religio carnalis“ und denjenigen der hierarchischen „Experten“ nach Korrektheit theologischer Vorstellungen. In den Arbeiten von Wolfgang Brückner könnte man viel darüber lernen.
Der Darstellungsstil wirkt für mich fast permanent überanstrengt in seinem Bemühen, größere theoretische Generalisierungen einfacher/simpler Vorgänge in Worte zu fassen. Zitate wie das folgende – für den Rezensenten entweder überwiegend ohne weiterführenden Sinn oder zum Widerspruch reizend – können fast beliebig gefunden werden, dieses hier aus dem bilanzierenden Schlusskapitel mit der Formulierung des/eines Ergebnisses (?): „Gerade die Dynamik der Wallfahrt im Untersuchungszeitraum, die zwischen Vervielfältigung, Diffusion und Zentrierung changiert und zu einer Nahräumigkeit hin tendiert, lässt sich in den Narrativierungsstrategien der Mirakel- und Gnadenbuchautoren ebenso fassen wie die Konstruktion eines (bayerischen) Gnadenraums. Insbesondere wird jedoch sichtbar, wie historische und singuläre Ereignisse in die Erzählung der göttlichen Gnade eingearbeitet wurden. Indem es den Autoren gelingt, ihr Auftreten und ihre Auswirkungen als kontingent zu markieren, verleihen sie der lokalen Wirkmächtigkeit göttlicher Gnade Ausdruck.“ (227)