Aktuelle Rezensionen
Michael Fahlbusch/Ingo Haar/Alexander Pinwinkler (Hgg.)
Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme
Bd. 1: Biographien; Bd. 2: Forschungskonzepte – Institutionen – Organisationen – Zeitschriften, 2. Aufl., Berlin/Boston 2017, De Gruyter Oldenbourg, 2 Bde., XXXIV, 2255 SeitenRezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 13.03.2018
Im Jahr 2008 erschien erstmalig das Handbuch der völkischen Wissenschaften; diese erste Auflage umfasst einen Band, der 849 Seiten enthält, und seine über 140 Einträge wurden von 85 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geschrieben. Das Buch erhielt zahlreiche kritische Rezensionen mit den üblichen pseudokonjunktivistisch formulierten Mäkeleien (inhaltliche Unschärfen, ungleiche Gewichtungen, fehlende Themen und Personen etc.) nach dem Motto: Man könnte jetzt kritisieren, dass ..., was man dann aber in der Folge tatsächlich, also indikativ, auch tat, anstelle es dann doch lieber – wie angekündigt – beim Konjunktiv zu belassen.
Jetzt erschien, „angeregt durch die damaligen Auseinandersetzungen und teilweise herben Kritiken“ (V), die zweite erweiterte und überarbeitete Auflage des Handbuchs, und zwar erweitert in jeder Hinsicht: 170 statt 85 Autorinnen und Autoren, zwei Bände statt einem Band und aktualisiert durch zahlreiche neue Themen und korrigierte alte Sujets. Letzteres war auch deshalb nötig gewesen, weil in der Zwischenzeit – und nicht zuletzt durch das Handbuch selbst angestoßen – eine Fülle neuer Arbeiten zur völkischen Bewegung und zu völkischen Wissenschaften erschienen ist. Daher enthält die erweiterte Ausgabe des Handbuches auch eine neue Zusatzeinleitung, geschrieben von Uwe Puschner, einem der wesentlichen Experten der Geschichte der völkischen Bewegung. Puschner fasst den Gegenstand des Handbuchs nochmals präziser und arbeitet die Bedeutung der völkisch implizierten „Wissenschaft“ für die bevölkerungspolitischen Strategien der deutschen Forschungslandschaft der damaligen Zeit heraus. Damit stellt er das Handbuch in den Kontext thematisch benachbarter Übersichtswerke wie des Handbuches des Antisemitismus oder des Handbuches zur „völkischen Bewegung“.
Der erste Band des Handbuches enthält 170 Biografien von Vordenkern, Protagonisten und Grenzgängern völkischer Wissenschaft bzw. von Wissenschaftszweigen, die von vornherein unter völkischen Gesichtspunkten entworfen wurden, anfällig für völkische Gedankengänge waren oder völkisch imprägniert worden sind. Es handelt sich hier durchweg um männliche Akademiker, zumindest jedoch Gebildete mit entsprechenden (Schul-)Abschlüssen jedweder Couleur und aller möglichen Fachrichtungen, von denen etliche aufgrund ganz verschiedener persönlicher, sozialer oder beruflicher Umstände ihre ehemals sachliche wissenschaftliche Ebene verlassen hatten und sich für die Verfechtung einer völkischen Ideologie im Mantel einer als seriös apostrophierten Wissenschaft entscheiden sollten. Es ist an dieser Stelle weder sinnvoll noch gewinnbringend, einzelne Biografien gesondert herauszuheben, wesentlich wichtiger ist es, einen Gesamteindruck herauszustellen: Das Lesen etlicher Biografien im zusammenhängenden Vergleich macht eindrücklich bis schmerzhaft deutlich, wie gefährlich einfach es zu sein scheint, vom Wissenschaftler zum Ideologen zu werden. Jenseits der Fülle an biografischen Details und übergreifenden Zusammenhängen, die hier geboten werden und die in einer Rezension nicht einmal im Ansatz darstellbar sind, sollte und kann man die Biografien daher auch als konkrete Aufforderung zur biografischen und wissenschaftlichen Selbstvergewisserung und Selbstkritik verstehen.
Dieser Eindruck setzt sich im zweiten Band fort, dessen erster Teil sich mit völkischen „Forschungskonzepten“ befasst, einem Begriff, der im Grunde für nichts anderes steht als für die Transformation von mehr oder weniger konkreten Themenfeldern in politische Ideologie, die vielfach als „wissenschaftlicher“ Begründungszusammenhang für Rassismus, Verfolgung, Ausgrenzung und Massenmord gedient hat. Im engeren Sinn gehörten dazu Forschungsfelder wie Volkskunde, Archäologie und Hausforschung, Geografie und Naturschutz („Wald und Baum“, „Deutscher Wald“), Burgenforschung, Naturwissenschaft („Rassenbiologie“), Orientalistik und Religionswissenschaft („Germanischer Glaube“) oder Sonderpädagogik. Im weiteren Sinne betraf dies nichtwissenschaftliche Konzepte wie Esoterik bzw. völkisch-religiöse Konzepte („Ariosophie“); ein Thema, das gerade in den 1980er und 1990er Jahren hinsichtlich seiner angeblich hohen Bedeutung für die ideologischen Sichtweisen und politischen Entscheidungen der Führungselite in NSDAP und SS seitens der Forschung etwas überinterpretiert wurde und auch in diesem Handbuch mit einem (auf Englisch verfassten) Aufsatz, der doppelt so lang ist wie die anderen Beiträge und die Forschung der 1990er Jahre im Grunde nur noch einmal wiederholt, vertreten ist (der Autor Eric Kurlander hat gerade eine englischsprachige Monografie dazu veröffentlicht).
An diesen Block schließt sich ein größerer Abschnitt über Institutionen der völkischen „Wissenschaft“ an, und hier reicht die über 50 Institutionen umfassende Palette von heimat- und landeskundlichen Stellen über Institute für „Osteuropaforschung“ – bei denen es um Rechtfertigungsstrategien für Ausplünderung, Annexion, Besatzung und Massenmord ging – bis hin zu Runenkunde, Sozialforschung, „Rassen und Völkerkunde“. Auch hier fehlt leider nicht der unvermeidliche Ausflug ins esoterisch Absurde; programmgemäß wird auf das „Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte“ von Herman Wirth verwiesen, ein schon damals als völkischer Sonderling apostrophierter „Privatgelehrter“, dessen tatsächliche Wirkung völlig überschätzt wird.
Im dritten Teil des zweiten Bandes schließlich werden „Organisationen“ rekapituliert; ein Konglomerat, das sich mit dem Abschnitt „Institutionen“ zu überschneiden scheint, das aber eher denjenigen Institutionen gewidmet ist, die weniger Wissenschaftlichkeit vortäuschen als vielmehr tatsächlich reine außerakademische Instrumente der völkischen Ideologie waren: SS-Ahnenerbe, Rassenpolitisches Amt der NSDAP, Reichministerium für die besetzten Ostgebiete, Kriminalbiologische Gesellschaft, Kampfbund für deutsche Kultur, Reichsschule des SD oder Abteilungen des Reichssicherheitshauptamtes, mithin diejenigen Stellen, die bemüht waren, die theoretischen völkischen Vorgaben praktisch umzusetzen. Der vierte Teil des zweiten Bandes des Handbuches rekapituliert wesentliche völkische Zeitschriften, die die völkische Ideologie publikatorisch begleitet und medial befeuert haben. Auch im gesamten zweiten Band des Handbuches wird vor allen Dingen und mit übergreifender Systematik deutlich, wie und vor allem wie reibungslos mit derselben Klientel Wissenschaft in Ideologie umgewandelt werden kann.
Handbücher haben es zurzeit schwer, da ihre einzelnen enzyklopädisch-gesättigten Inhalte vermeintlich besser und schneller im Internet abrufbar sind. Auch in diesem Handbuch lassen sich quasi alle hier enthaltenen Biografien in Wikipedia nachschlagen, lassen sich die hier behandelten Institutionen und Organisationen im Internet recherchieren. Dazu kommt der bemerkenswerte Preis des Handbuches von 249 Euro, der mit Sicherheit nicht auf einen großen Käuferkreis zielt. Wer soll so etwas kaufen? Dennoch hat das Handbuch einen Vorteil: Man blättert, greift hier eine Biografie auf, die an die nächste anknüpft, schlägt hier ein Institut nach, das auf ein anderes im Handbuch verweist, kommt mühelos von einem Thema zu einem anderen Inhalt und fängt an, den Gehalt des Handbuches auf Parallelen und Bezüge abzuklopfen, die anregend und bereichernd sind. Tatsächlich stellt sich beim Lesen ein Zuwachs an Erkenntnis und Interesse ein, und das ist schließlich kein schlechtes Ergebnis für eine Publikation.