Aktuelle Rezensionen
Karlheinz Dietz/Christian Hannick/Carolina Lutzka/Elisabeth Maier (Hgg.)
Das Christusbild. Zu Herkunft und Entwicklung in Ost und West. Akten der Kongresse in Würzburg, 16.-18. Oktober 2014 und Wien, 17.-18. März 2015
(Das Östliche Christentum N. F. 62), Würzburg 2016, Echter, 883 Seiten mit Abbildungen u. 88 TafelnRezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.05.2018
Die Literatur zur Geschichte des Christusbildes ist Legion. Wer sich in den vergangenen Jahren orientieren wollte, griff zu der fast fünfhundertseitigen Monographie des einschlägigen Rom-Erforschers Gerhard Wolf: „Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes“, München 2002. Nun liegen hier die Kongressakten zweier Tagungen der Jahre 2014 und 2015 in Würzburg und Wien vor. Die erste Tagung befasste sich mit dem „Christusbild. Herkunft und Ursprung in Ost und West“, die zweite Tagung mit dem Thema „Spuren von Heiligem Antlitz in Sindon, Sudarium, Mandylion, Veronica, Volto Santo“. Die Dokumentation sämtlicher Beiträge hat einen Ziegelstein von Band (6,5 cm dick) ergeben. Die Autoren stammen aus neun Nationen.
Der Hauptherausgeber und Initiator des gesamten Projekts Karlheinz Dietz ist emeritierter Ordinarius für Alte Geschichte an der Universität Würzburg. Seine gelehrten Nebenstunden gelten schon seit Jahrzehnten dem Phänomen des Turiner Grabtuches. Ihm liegt an einem „vorurteilsfreien Dialog“. „Es geht um nicht weniger als um die Bedingungen der Möglichkeit, unter denen die Darstellung des Mensch gewordenen Gottes gelingen kann.“ (27) Sein Fazit: „Die Tagungen von Würzburg und Wien hatten das Ziel, wenigstens an einigen Stellen ein paar Marksteine durch die Konfrontation der frühen Überlieferungen zum Christusbild mit der Realität des Turiner Grabtuchs zu setzen.“ (53)
Den Leser und den zukünftigen Benutzer fasziniert das monumentale Werk, denn in seiner buchtechnischen Mitte befindet sich der farbige Bildteil von 88 Tafeln mit vielem bislang unbekannten Material. Es ist geordnet nach den dazugehörigen Referaten: 1. (Taf. 1-2) Mosaiken (13 Abb.); 2. (Taf. 3-6) Frühe byzantinische Ikonen (14 Abb.); 3. (Taf. 3) Amulett mit Abgar-Text (1 Abb.); 4. (Taf. 4) Zwei Goldsolidos (2 Abb.); 5. (Taf. 5) Sinai-Ikonen (4 Abb.); 6. (Taf. 6) Zur Theologie der Christus-Ikone (2 Abb.); 7. (Taf. 7-11) Zum Turiner Grabtuch (19 Abb.); 8. (Taf. 12-25 und 43-44) Slavische Traditionen (48 und 4 Abb.); 9. (Taf. 26-29) Französische Bildquellen (14 Abb.); 10. (Taf. 30-42) Byzantinische Ikonen und orthodoxe Liturgie (38 Abb.); 11. (Taf. 43-58) Mandylion und Veronica (61 Abb.); 12. (Taf. 59-69) Weisungen in Rom (31 Abb.); 13. (Taf. 83-86) Schleier von Manoppello (7 Abb.); 14. (Taf. 87-88) Wiener Veronika (8 Abb.). Schwarz-Weiß-Abbildungen finden sich in den Beiträgen von Jannic Durand zu Abgar, von Enrico Morini über Turin, von Karlheiz Dietz über die Schwarze Veronica, von Mechthild Flury-Lemberg über Manoppello, von Paulus Rainer über die Wiener Veronika, von Elisabeth Maier über die Verehrung der Veronica im 19. Jahrhundert.
Meine Auflistung belegt den umfangreichen Quellenwert für eine Ikonographie-Geschichte des Christusbildes ganz generell. Für Karlheinz Dietz sind diese bildgeschichtlichen Studien lediglich die Grundlage für sein Interesse am Turiner Grabtuch. Doch er gehört gerade nicht zu den „Sindologen“ vor Ort in Turin, die zugleich als Kultwächter wenig Lust verspüren an ihrer Ansicht nach zu viel kritisch-historischer Wissenschaft, weshalb Dietz für seine zusammenfassende Einführung und Ergebnisanalyse eigens darauf hinweist, dass jener Text aus seiner Feder „ausschließlich die Meinung des Verfassers“ wiedergibt. Es stehen sich nämlich Verfechter und Leugner (von zustimmend über gleichgültig bis ablehnend) der sogenannten „Echtheit“ gegenüber. „Da das Urteil über diese ‚sindonische Realtät‘ im vorwissenschaftlichen Bereich fällt, muss die Echtheitsfrage gar nicht beantwortet sein, um das Turiner Grabtuch anzunehmen.“ (61) Die sogenannte „Authentizität“ des Turiner Grabtuches „stand nicht im Mittelpunkt der [Würzburger] Tagung“. „Die Naturwissenschaften können bestenfalls sagen, was das Turiner Grabtuch nicht ist, da es – wie der jüdische Chemiker Alan Adler einmal sagte – keinen akzeptablen naturwissenschaftlichen Nachweis Christi gibt. Die Geschichtswissenschaften aber müssen sich, wollen sie ehrlich bleiben, mit Wahrscheinlichkeiten bescheiden. Auch nach diesem Symposium bleibt das Paradoxon bestehen, dass das erst spät in der Überlieferung auftauchende Kreuzigungs-‚Bild‘ des Turiner Grabtuches ein Antlitz zeigt, welches der ‚kanonischen‘ Christusikone verblüffend ähnelt, aber am Ende der Entwicklung erscheint, obwohl es typologisch und aus mehreren anderen Gründen am Anfang stehen sollte. [...] Das Turiner Grabtuch ist, was immer es ist, eine Realität, die Realität einer Kreuzigung. Es zeigt eines der fürchterlichsten und anrührendsten Bilder zugleich: eine stete Erinnerung an die Fähigkeit des Menschen zur grenzenlosen Grausamkeit, aber auch an die Hoffnung auf deren Überwindung. Schon deshalb ist es unbedingt der ernsthaften Erforschung wert.“ (60)
Dietz argumentiert dazu im historischen Fachverständnis zunächst theologiegeschichtlich: „Unabhängig von der Echtheitsfrage sind die als Veronica bezeichneten Christusbilder legitimerweise zu verehren, da es bei deren Verehrung um die Verehrung des Archetypus (Christus) und nicht des Bildes geht.“ (64) Dann aber konstatiert er den Standpunkt des modernen Historikers, wenn er formuliert: „Nicht der Nachweis der Echtheit, sondern Geschichte und Tradition weisen den Weg, das Antlitz Christi wie in Turin so auch in Manoppello zu erblicken.“ Denn: „Die Realität des Grabtuches (Sindone) von Turin ist nach Ghiberti unabhängig von der Echtheitsdiskussion ein für die Exegese und den Glauben bedeutsames Objekt.“ Die in Wien aufbewahrte Veronikakopie hingegen stammt von Pietro Strozzi aus dem 17. Jahrhundert.
Alles in allem liegt ein aufregendes Projekt offen vor aller Augen. Und ganz typisch: nicht an der Universität entstanden, sondern von einem kompetenten Einzelkämpfer aus ihren Reihen, doch nicht während „Bologna“, sondern im Nachhinein. Was für ein schöner Erfolg!
In der Volkskunde hat Christoph Daxelmüller ein Buch über „Die süßen Nägel der Passion“ und das Turiner Grabtuch geschrieben und seine Studenten auf Exkursion nach Turin geführt. Für ihn stellt das Sindone ein typisches Zeugnis mittelalterlicher Selbstkreuzigungen dar. Dietz sagte dazu: „Ich glaube kein Wort.“
In Würzburg unterstützten das Ostkirchliche Institut der Universität sowie der Diözesanbischof Friedhelm Hofmann, ein promovierter Kunsthistoriker, das Kongress-Unternehmen und in Wien der Kardinalerzbischof Christoph Schönborn, der als einstiger Dominikanerprofessor über ostkirchliche Christusbilder geforscht hatte. Somit konnten auch die Konservativen unter den sogenannten Sindologen die Zusammenarbeit nicht verweigern und waren praktisch neutralisiert. Auch der Gesamtfinanzierung einschließlich der aufwendigen Drucklegung dürfte die kirchliche Anbindung nur genützt haben. Wir leben Gott sei Dank in einem aufgeklärten Zeitalter, das uns frei diskutieren lässt.