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Aktuelle Rezensionen


Jana Louise Baum

Mobbing 2.0. Eine kultursoziologische Betrachtung des Phänomens Cyber-Mobbing

(Internet Economics/Internetökonomie 5), Berlin 2015, LIT, 97 Seiten
Rezensiert von Andrea Schilz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.05.2018

„Zu viele Menschen wissen zu viel voneinander.“ Jana Louise Baum stellt ein Zitat von Marshall McLuhan, das diesen Satz beinhaltet, ihrer an der Cologne Business School entstandenen Untersuchung zu Cyber-Mobbing voran und konzentriert sich damit auf den Drehmoment des Themas. Gewalt entfaltet ihr destruktives Potential im Sinne von TäterInnen am effizientesten, wenn sie an verifizierten Schwachstellen des Gegenübers ansetzt. Der Schlüssel hierfür ist Information. Diese Feststellung leitet unmittelbar über zu einem weiteren Kernargument, einer Kritik der „Online-Offline-Dichotomie“ (30 ff.): „[...] das Antonym der Dimension der Virtualität [ist] nicht die Realität, sondern die physische Existenz [...]. Der Gegensatz von real ist folglich nicht virtuell, sondern irreal, und irreal ist die Virtualität [...] bei weitem nicht, wie am Beispiel Cyber-Mobbing offensichtlich wird.“ (30 f.) In diesem Kontext markiert das Jahr 2004 mit der Gründung von Facebook, der Mutter aller Sozialen Netzwerke, eine weitere Schwelle in der Geschichte der Massenkommunikation (34 ff.). Das Prinzip der offenen Graph-Datenbank reformiert buchstäblich menschliche Beziehungen mit der Logik von Knoten-Kante-Knoten, über die an Individuen gekoppelte semantische Zusammenhänge multimodal konstruiert und rhizomatisch verbreitet werden.

Nachdem Jana Louise Baum Erscheinungsformen von Cyber-Mobbing abgegrenzt und unter acht kategorischen Merkmalen nach Nancy Willard definiert hat, betrachtet sie unter jenen (im Rahmen dieser Rezension nur grob umrissenen) Parametern des Cyberspace „Kommunikation und Interaktion im Internet“ und die darauf basierende Konstituierung „Virtueller Gemeinschaften“ (38-44). Hier diskutiert sie insbesondere den sozialen (Missbrauchs-)Faktor Vertrauen („Der virtuelle Raum als Instrument der Steuerung?“, 45-47), einleitend kontrastiert zu Mechanismen „realweltliche[r] Dörfer“ (hergeleitet vom globalen Dorf McLuhans), in denen „die soziale und gesellschaftliche Kontrolle durch Normen und Werte für eine Herstellung eines Gleichgewichts“ (45) sorgt. Aber konstituieren jene Normen und Werte nicht auch in der face-to-face-Welt von (Mikro-)Gemeinschaften Ungleichgewicht in Form von Exklusion, Marginalisierung und Repression? Mein kurzer Einwand soll nun keineswegs suggerieren, dass sich Baum des mitunter verschränkten Charakters von Gewaltphänomenen in der analogen und digitalen Welt nicht bewusst wäre, ebenso wie der markanten Unterschiede. Ihre Analyse „[k]onstituierende[r] Spezifika des Cyber-Mobbings“ unter „[t]echnisch-soziologische[n] Charakteristika“ durchdringt das Thema systematisch unter neun prägnanten Perspektiven (zum Beispiel: Anonymität, Virale Effekte, Speicherung), ohne den Bodenkontakt zu verlieren. Hier macht sich die Methodenwahl bezahlt, bei der neben der Auswertung des Forschungsstands auch „Daten aus eigenen, multiperspektivischen Erhebungen“ (5) Verwendung fanden, die unter qualitativem Zugang „in Form einer Gruppendiskussion mit Jugendlichen und halbstandardisierter Experteninterviews“ gewonnen (7) und in Anbindung an die Grounded Theory theoretisch kodiert wurden (8). Die Gruppeninterviews untergliederten sich in zwei Einheiten mit 15-19 und 14-17 Jahre alten Jugendlichen, die Experten hatten die Funktionen Schulleitung, Lehre, Sozialarbeit und „Community Manager Online Social Networks“ inne (97). In diesem Teil der Veröffentlichung gewinnt, so mein Eindruck, die Arbeit am Thema besonders stark an Konturen. Dem Phänomen Cyber-Mobbing ist eine Dichotomie zwischen ausgesprochen vulgär-brutalen Erscheinungsformen und komplexen soziopsychologischen Motivlagen unter technisch determinierter Realisierung immanent. ForscherInnen sind darüber hinaus gefordert, über die ohnehin obligatorische bewusste Selbstpositionierung hinaus einen dezidiert abgegrenzten Standpunkt einzunehmen, im Feld und in der Analyse. Genügend operationalisiert, ist die Verschränkung von Theorie und fundierter Empirie freilich Mittel der Wahl, um den Befund spezifischer Übergriffigkeit systematisch einzuordnen und so der Relevanz des Themas Raum zu geben. Weniger überzeugen konnte mich dagegen die Betrachtung „kultursoziologische[r] Charakteristika“ unter medientheoretischer Perspektive (62 ff.). Geschuldet ist dies der Unauflösbarkeit von Anspruch und publizistischer Wirklichkeit – der Horizont der Arbeit lässt einfach nicht viel mehr zu, als das Anformulieren sehr großer Fragenkomplexe. Den zwar nachvollziehbaren, doch nur in skizzenhafter Weise möglichen Feststellungen bezüglich Systemtheorie und Foucaultscher Machtanalytik können unausweichlich nur Desiderate folgen. An dieser Stelle sind LeserInnen jedoch schon zu gewöhnt an bzw. verwöhnt von den dicht gestalteten Argumentationslinien, welche den zwei Schlusskapiteln vorangehen.
Jana Louise Baum zieht das Fazit, dass „das Grundproblem nicht im Medium [liegt], in dem das Mobbing auftritt, sondern im Verhalten des Menschen. Das Medium spiegelt und verstärkt das Mobbing jedoch.“ (75) Sie ruft zu Aufmerksamkeit und durchaus auch zu Intervention auf, „wo sich [...] Entwicklungen als ungut und destruktiv erweisen“ (79). Ihr Beitrag zur Analyse „gesellschaftliche[r] Veränderungen, die durch die digitalen Medien hervorgebracht werden und damit einhergehend neue Formen von sozialen Strukturen entstehen lassen“ (79), weist genau in diese Richtung.