Aktuelle Rezensionen
Marcel Boldorf/Rainer Haus (Hgg.)
Die deutsche Kriegswirtschaft im Bereich der Heeresverwaltung 1914-1918. Drei Studien der Wissenschaftlichen Kommission und ein Kommentarband
Berlin/Boston 2016, de Gruyter, 248, 281, 345, 272 SeitenRezensiert von Paul Hoser
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 27.04.2018
Im Herbst 1915 gab das preußische Kriegsministerium als zentrale Institution für die Koordinierung der Rüstungsproduktion eine auf acht Bände geplante Studie an ausgesprochene Spezialisten in Auftrag, die Erkenntnisse über die wirkliche Lage der wichtigen Industriebereiche liefern sollten. Angesichts dessen, dass damals in der Kriegswirtschaft vielfach improvisiert werden musste, fehlte ein Überblick, aus dem man Folgerungen für eine sinnvolle Planung hätte ziehen können. Leiter des Projekts war der Professor für Nationalökonomie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, Max Sering. Drei der geplanten Bände wurden fertig und konnten noch nach dem Krieg 1922 gedruckt werden. Da verschiedene Reichsministerien Einwände gegen eine Veröffentlichung hatten, mussten die schon gedruckten 25.000 Exemplare wieder eingestampft werden. Man befürchtete, den ehemaligen Kriegsgegnern mit den Studien Argumenten für eine höhere Belastung Deutschlands mit Reparationen zu liefern oder gar den Eindruck zu erwecken, Deutschland habe noch genug Potential, um einen neuen Krieg führen zu können. Auch wollten sich die noch immer amtierenden Ministerialbeamten, die alles andere als Demokraten waren, weiter ihren exklusiven Wissenszugang sichern und die Kritik an der Kriegswirtschaft nicht in die Öffentlichkeit dringen lassen.
Die drei Studien befassten sich mit dem Waffen- und Munitionswesen (Robert Weyrauch), der Eisenwirtschaft (Alfred Stellwaag) und der Kriegsbewirtschaftung der Spinnstoffe (Otto Goebel). Überraschenderweise fanden sich in den letzten Jahren noch Exemplare aller drei gedruckten Bände, eines in der Bibliothek der Bundeswehr bei Potsdam, die beiden noch fehlenden in den Beständen der Universitätsbibliothek Regensburg.
In einem Begleitband mit kommentierenden Aufsätzen zeichnet Gerd Hardach, dessen Band über den Ersten Weltkrieg in der mehrbändigen Geschichte der Weltwirtschaft von 1973 immer noch das Standardwerk zu dem Themenbereich ist, eine allgemeine Skizze. Die Zahl der wirtschaftshistorischen Arbeiten zum Ersten Weltkrieg ist bescheiden geblieben. Hardach sieht den Krieg als Wirtschaftskrieg, in dem die Alliierten in allen Sparten der Produktion überlegen waren. Nachdem Deutschland vergeblich versuchte, die wegfallenden Importe aus den gegnerischen Ländern durch solche aus neutralen auszugleichen, zwang die britische Seeblockade schließlich zur Planung und zum lenkenden Eingreifen des Staats. Dieses konnte aber den Mangel nicht beheben. Das Volkseinkommen war schließlich bis 1918 gegenüber 1913 um etwa ein Viertel gesunken. Marcel Boldorf erwähnt in seinem Beitrag über die wirtschaftliche Organisation und Ordnungspolitik, dass führende militärische Kreise schon früh zu der Ansicht gelangt waren, der Krieg sei ökonomisch nicht führbar. Er stützt sich dabei auf die Studie über die Eisenwirtschaft.
Das Reich verbrauchte seine gesamten Goldreserven und finanzierte sich durch unbegrenzten Kredit und die Vermehrung des Papiergeldes in der Hoffnung, nach einem gewonnenen Krieg werde man die Gegner bezahlen lassen. Man hatte mit einem schnellen Sieg gerechnet und wirtschaftlich nicht groß geplant. Absoluten Vorrang hatte für das Heer die Schwerindustrie, was aber bei den im Lauf des Kriegs entwickelten Lenkungsmaßnahmen nicht das Gewicht der staatlichen Verwaltung, sondern das der Industriekonzerne erheblich vergrößerte.
Zwar gelang die Steigerung der Munitionsproduktion, wie die Studie dazu ergab, doch hatte man 1918 nicht mehr genug Waffen und Soldaten für einen Bewegungskrieg. Man hatte auch einerseits in Fülle Stahl für die Granatenherstellung. Die Eisen- und Stahlproduktion reichte aber andererseits nicht aus, um auch die Eisenbahn für ihren Bedarf hinreichend zu versorgen. Die schlechte Transportsituation gefährdete wiederum die Produktion.
Das Stiefkind in der Industrie war die Textilwirtschaft. Die Zahl der Beschäftigten sank um 90 Prozent, die notwendigen Rohstoffe wurden zunehmend knapper. Preisregulierungen förderten nur den Schwarzmarkt.
Der Beitrag von Rainer Haus geht etwas zu breit auf die allgemeine Entwicklung der Schwerindustrie vor dem Ersten Weltkrieg ein und konzentriert sich zu wenig auf den eigentlichen Gehalt der Studie zu diesem Thema. Insgesamt liest man den Kommentarband aber mit hohem Gewinn.
Markus Pöhlmann bemerkt zu der Studie über die Munitionswirtschaft, es handle sich dabei um einen „Text von Experten für Experten“. Dies gilt auch für die beiden anderen Studien, die ebenfalls für den Historiker hartes und trockenes Brot sind. Sie weisen überdies kaum Quellenangaben auf und sehen alles aus einer zentralen und allgemeinen Perspektive. Für Erkenntnisse über regionale Entwicklungen benötigt man andere Quellen. In Bayern war ja durchaus kriegswichtige Industrie ansässig - man denke etwa an MAN und BMW, an das Krupp-Zweigwerk in München sowie die pfälzischen BASF, die durch den für die Munitionsherstellung enorm wichtigen synthetischen Ammoniak eine wachsende Bedeutung hatten. Nahe Dachau entstand im Krieg die Pulver- und Munitionsfabrik. Diese stellte nach dem verlorenen Krieg eine enorme Belastung für die Stadt dar. Ihr Gelände wurde 1933 für die Errichtung des Konzentrationslagers verwendet. Überhaupt gab der Krieg – wenn auch auf einseitige Weise – der Industrialisierung Bayerns einen Schub.
Die Studien machen klar, dass ihre Verfasser um die wirtschaftlichen Probleme der Kriegsführung wussten, für die sich keine Lösung abzeichnete. Nach außen hin durfte und wollte man dies allerdings nicht eingestehen. Noch am 28. Dezember 1917 log Max Sering in der offiziösen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ wider besseres Wissen das Blaue vom Himmel herunter und behauptete, man könne nicht zuletzt dank Planung und Lenkung den Krieg weiterführen, solange es politisch und militärisch notwendig erscheine. Die Oberste Heeresleitung wollte ihrerseits auch keine Schlüsse aus den internen Erkenntnissen ziehen.
Ebenso absurd erscheint es, auch angesichts des Erkenntniswerts der genannten Studien, wenn ausgerechnet der als Experte für die Geschichte des Ersten Weltkriegs bekannte Historiker Gerd Krumeich jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Juli 2017 behauptet hat, der Krieg hätte sich noch weiterführen lassen, hätte sich nicht die Heimatbevölkerung widersetzt. Mark Jones hat die Inkonsequenz und die Manipulationen in Krumeichs Argumentation, die nachträglich die Dolchstoßlegende zu rechtfertigen scheint, detailliert aufgedeckt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. August 2017).