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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Cornelia Eisler/Silke Göttsch-Elten (Hgg.)

Minderheiten im Europa der Zwischenkriegszeit. Wissenschaftliche Konzeptionen, mediale Vermittlung, politische Funktion

(Kieler Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte 12),  Münster/New York 2017, Waxmann, 235 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Sebastian Gietl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.04.2018

Basis des von Cornelia Eisler und Silke Göttsch-Elten herausgegebenen Bandes waren die Ergebnisse der Abschlusstagung eines von Cornelia Eisler bearbeiteten Forschungsprojektes zum Thema „‚Grenz- und Auslandsdeutschtum‘ als Forschungsfeld“. Ausgesprochenes Ziel der Tagung wiederum war es, „unterschiedliche wissenschaftliche und politische Konzepte nationaler Minderheiten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, in den Blick zu nehmen sowie ihre Mediatisierung und Politisierung im europäischen Kontext kritisch zu hinterfragen“. Obwohl als Veranstalter der Tagung das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) fungierte, beschränkte sich der Fokus nicht allein auf deutsche oder deutschsprachige Minderheiten. Stattdessen sollten vor allem „fremdstaatliche Minderheitenkonzepte in unterschiedlichen europäischen Staaten im Mittelpunkt stehen und der Versuch unternommen werden, die variierenden national fokussierten Volkskunden in Europa untereinander, aber auch zu anderen Konzepten in Bezug zu setzen“.

Sowohl die zeitliche Beschränkung auf die Anfänge der modernen Minderheitenpolitik mit einem Fokus auf die Zwischenkriegszeit als auch die erweiterte Perspektive – der sprichwörtliche Blick über den Tellerrand – tun der Publikation unheimlich gut und heben sie damit auf ein anderes Level. Und wie die Herausgeberinnen im Vorwort zu Recht feststellen, haben zwar die Volkskunde und die „Konturierung von Begriff und Sache ‚Minderheit‘“ sehr viel miteinander zu tun, aber es ist tatsächlich ein interdisziplinäres Thema, das nur durch eine breite und vielfältige und vor allem internationale Betrachtung greifbar wird, denn, wie die beiden Herausgeberinnen zudem konstatieren: „[N]ur die gemeinsame Perspektive auf dieses Phänomen wird dazu beitragen, den Minderheitenbegriff kritisch zu beleuchten und seine vielfältigen Semantisierungen in den unterschiedlichen nationalen Kontexten, aber auch politischen Ideologien zu erfassen.“ Zur unheimlichen Dichte der Publikation trägt zudem die Qualität und unbestrittene Expertise der einzelnen Beiträger bei, die sich dem Thema auf ganz unterschiedliche Weise nähern, jedoch in weiten Bereichen volkskundlich-kulturhistorischen Ansätzen folgen, sind die meisten Autoren doch entweder fest im Fach verankert oder haben Volkskunde oder eines der verwandten Fächer im Laufe ihrer Ausbildung studiert.

Als sehr hilfreich für Einsteiger in das Thema dürfte sich daher der einführende Beitrag von Konrad Köstlin erweisen, der die Minderheiten als „Phänomen der Moderne“ vorstellt, das als Ergebnis nationaler und sprachpolitischer Homogenisierungsprozesse zu sehen ist und vor allem im Kontext von politischen Formen der Demokratie zu finden ist. Denn das „demokratische Prinzip der Mehrheit bedingt als Gegenpol die Minderheit, sie ist ohne deklarierte Andersheit der Minderheit nicht zu denken“. Die These zugrunde legend, dass „Minderheiten produziert werden und einen Akt der Performanz darstellen“, wird deutlich, wie sehr sich dieses Phänomen bis in die Gegenwart analog zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen ausdifferenziert hat – ausgehend von Kategorien wie Religion, Kultur, Nation oder Ethnie hin zur Identifikation über Lebensstile.

Der Beitrag von der Mitherausgeberin Cornelia Eisler thematisiert Entwicklung und Wandel des „Grenz- und Auslandsdeutschtums“ in Verbindung mit seiner Rolle als potentieller Forschungsgegenstand in der Weimarer Republik. Im Zentrum der Forschung der Autorin steht dabei die von Max Hildebert Boehm und Georg Schreiber formulierte Konzeption des „Grenz- und Auslandsdeutschtums“ bzw. der deutschen Minderheiten. Dabei zeigt die Gegenüberstellung der Konzepte, dass im volkskundlichen Vergleich „neben der völkisch-nationalistischen und expansionistischen Boehms“ zumindest zeitweise auch „alternative Herangehensweisen“ existierten.

Sowohl historisch als auch geografisch einen anderen Winkel der Geschichte suchte sich Christian Marchetti. Er thematisiert die sogenannten „kleinen Volkskunden“ in der Zeit der Habsburger Monarchie am Beispiel der „Selbsterfindung einer Volkskunde der Banater Schwaben“. Dabei steht bei ihm vor allem die Form der Selbstdarstellung, welche durch siebenbürgisch-sächsische Volkskundler entwickelt wurde, und die damit verbundene „Selbstentdeckung der deutschungarischen Volkskunde“ im Zentrum seines Erkenntnisinteresses.

Tobias Weger thematisiert dagegen in seinem Beitrag „Das Konzept der ‚Volksbildung‘ – völkische Bildung für die deutschen Minderheiten“ die Verflechtungen von Akteuren und Institutionen in Bezug auf das Konzept „Volksbildung“. Neben einer Vorstellung der unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten des Begriffs „Volksbildung“ legt er vor allem seinen Fokus auf den völkischen Volksbildungsbegriff der „sudentendeutschen Bewegung“. Dabei zeigt er auf der einen Seite die Entwicklungslinien des Konzepts ausgehend vom Böhmerwald, das danach in der Zwischenkriegszeit großflächige Verbreitung im östlichen Europa fand. Auf der anderen Seite wird deutlich, wie hoch der Einfluss nur weniger Protagonisten war, „die überregional und nachhaltig Einfluss nahmen und somit Homogenisierungstendenzen herbeiführten“.

Rudolf Jaworski thematisiert in seinem Beitrag ebenfalls den Bildungsbereich und konzentriert sich dabei auf die starke Rezeption sowohl der nationalen als auch der ethnischen Auslegung des Minderheitenkonzepts in der Schulbildung zur Zeit der Weimarer Republik. Dabei ergeben seine Forschungen, dass das „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ als Konzept in ganz unterschiedlicher Dichte in den Lehrinhalten vieler Fächer auftauchte. Ein eigenes Fach wurde jedoch nicht etabliert. Ein weiterer Schwerpunkt seines Aufsatzes liegt in der Darstellung der Emotionalität in der Argumentation der Initiatoren, was für ihn vor allem kompensationsfunktionalen Charakter hatte.

In einem weiteren Beitrag fokussiert Jennie Boie, wie regionale Spezifika am Beispiel „niederdeutsch“ im „Grenz- und Volkstumskampf“ nationalisiert wurden. Dabei zeigt sich, dass im deutsch-dänischen Grenzgebiet die Volkskunde als „angewandte Wissenschaft“ in Kooperation mit der „Volkstumsarbeit“ des Schleswig-Holsteiner Bundes zur Identitätsbildung diente, wobei es nach Boie den Akteuren der Volkstumsarbeit „nicht um die politische und soziale Integration der deutschen Minderheit in Dänemark“ ging und auch nicht „um das Bemühen eines friedlichen Zusammenlebens an der Grenze“. Vielmehr zeigte sich diese vorwiegend national und ethnisch differenzierend ausgerichtet.

Ähnliche Ergebnisse liefert die Mikrostudie von Jana Nosková. Sie thematisiert die Situation der schlesischen und mährischen Deutschen in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Als Quellenmaterial diente ihr dabei die Zeitschrift „Deutsch-Mährische Heimat“ und deren Sicht auf die politischen und staatlichen Neuerungen nach 1918. Dabei zeigt sich, dass aus politischen Gründen Konzept und Begriff der „Deutschen Minderheit“ vermieden und somit im Grunde als nicht existent vermittelt wurden. Dagegen konzentrierte man sich darauf, tschechische Minderheiten zu konstruieren und zu kommunizieren.

Hans-Christian Petersen thematisiert akteurszentriert die Geschichtsschreibung der deutschen Minderheiten in Russland. Dabei interessiert ihn vor allem das Einwirken Karl Stumpps, seine Netzwerkarbeit und der Einfluss einzelner Protagonisten auf gesellschaftliche wie wissenschaftliche Prozesse. Einen weiteren Schwerpunkt seiner Abhandlung bildet die variable Selbstdarstellung „der sogenannten Minderheitenführung“, die nach Petersen den Eindruck zu erwecken versuchte, „dem ideologischen Einigungskonzept der Deutschen in Russland alles zu opfern“.

Mit dem Schriftsteller und Politiker Rudolf Brandsch, seinen Ansichten über Deutsche in Rumänien und Ungarn sowie den Minderheiten und ihren Loyalitätsbeziehungen beschäftigt sich Sabine Bamberger-Stemmann. Dabei zeigt ihr Beitrag, „wie sehr aktuelle, zeitgenössische Themen aus der Wirtschaft und Politik die völkische Argumentation bestimmten, die zugleich historisch-ideologisch unterlegt war“.

Der letzte Beitrag stammt von Sarah Scholl-Schneider, die die gesamte Thematik wieder mit der Gegenwart verbindet. Dazu dient ihr das Beispiel tschechischer Remigranten, die im Laufe ihrer Biografie zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppierungen wechselten. Dabei zeigt sie diesen Umstand der „Fremdheitserfahrung“ als Chance auf, „die potentiell neue Perspektiven auf die Welt bietet“. Ihr Aufsatz offenbart zuallererst die Vielfältigkeit an Zuschreibungen und Deutungen, darüber hinaus aber vor allem die Dynamik und Brüchigkeit, die der so homogen erscheinende Minderheitenbegriff aufweist.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Band durch seine interdisziplinäre Perspektivierung und seinen begrenzten historischen Rahmen einen unheimlich dichten Blick auf Genese, Wahrnehmung und Funktion des Minderheiten-Begriffs zu werfen vermag. Die Autoren schaffen es durch die Bank, vielschichtige Zusammenhänge zu kennzeichnen und zu dechiffrieren, sie aber auch neu zu verorten und zu kontextualisieren. Der für viele so überaus schwammige Minderheiten-Begriff wird damit zum ersten Mal richtig greifbar und gewinnt an Kontur. Man kann den Herausgeberinnen zum Erreichen ihres Zieles nur gratulieren und dem Buch eine große Leserschaft wünschen. Eines muss aber immer klar sein: Dieser Band kann nur ein Anfang sein. Er hat es aber in sich und macht Lust auf weitere Forschungen.