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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Kerstin Schaefer

Zwischen Departure und Arrival. Eine Ethnografie des aeromobilen Unterwegsseins

Münster/New York 2017, Waxmann, 295 Seiten mit Abb.
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.04.2018

Anzuzeigen ist eine bei Thomas Hengartner und Bernhard Tschofen entstandene Dissertation, die sich mit dem Umgang einer bestimmten Anzahl von gegenwärtig lebenden Menschen mit einem bestimmten Verkehrsmittel auf ethnographischer, also auf den Alltag bezogener, Basis auseinandersetzt, ganz so, wie die Autorin selbst uns das am Beispiel einer bestimmten Hamburger Buslinie 2012 [1] und Martina Kleinert am Beispiel von segelnden Wasserfahrzeugen 2015 [2] vorgeführt haben. Eine historische Vertiefung des Themas, wie es Burkhard Fuhs für den Bereich der Passagierluftfahrt, Wolfgang Schivelbusch für die Eisenbahnreise und Klaus Beyrer für die Postkutschenreise untersucht haben [3],typo3/ ist nicht geplant, wenn man einmal von den spärlichen Bemerkungen auf den Seiten 25 bis 29 absieht. Die Autorin geht den Fragen nach: „Wie machen sich die Menschen das Fliegen? Wie sehen die symbolischen und kulturellen (Be-)Deutungen zu dieser Art der Fortbewegung aus? Und wie können durch empirische Erkenntnisse über das Unterwegssein im Flugzeug große Themen unserer Gesellschaft wie Mobilität oder Globalisierung kulturanthropologisch geerdet werden?“ (10)

Die Studie ist so aufgebaut, dass einem umfangreichen Einführungskapitel fünf weitere Teile unterschiedlichen Umfangs folgen. Im einführenden Teil kommt es zu einem recht abrupten Start, indem ersten Beobachtungen sogleich Marc Augés Überlegungen zum Verhältnis von Orten und Nicht-Orten, ferner allgemeine Bemerkungen zum aeromobilen Unterwegssein und zur Globalisierung beigefügt werden, darüber hinaus eine etwas arg knapp geratene Zusammenfassung des Forschungsstands. Der zweite Teil erkundet, dabei durchgehend den Anregungen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) verpflichtet, Materielles und Immaterielles, Äußeres und Inneres, von Menschen Gemachtes und Menschliches, wie es sich, einander durchdringend, ganz allgemein im konkreten Forschungsfeld gestaltet. Der dritte Teil ist der Rolle der Forscherin im Forschungsprozess (Probleme, Methodik, Theorien) gewidmet, während die nächsten beiden Teile das Ziel verfolgen, in geradezu perfektionistischer Manier die eigene Empirie, also die Fallstudien über die von der Autorin begleiteten zehn Probandinnen und Probanden, von ihr selbst „Wahrnehmungsflieger“ (233) genannt, zu beschreiben und zu analysieren. Die kulturwissenschaftliche Ausdeutung geschieht im letzten Teil, in dem es etwa um Erörterungen über die Flugreise als Übergangsritual (à la Arnold van Gennep oder Julian Pitt-Rivers) geht, über das Flugzeug als liminaler Raum oder als Heterotopie (à la Michel Foucault), über den per Flugzeug durchquerten Raum als Übergangs- und Zwischenraum (à la Johanna Rolshoven), über Fliegen als Kulturtechnik (à la Claude Lévi-Strauss) sowie, nicht zuletzt, darüber, wie man das obengenannte Orte-versus-Nicht-Orte-Konzept von Marc Augé mit Korrekturen versehen kann. Dessen Bestimmungen eines Nicht-Ortes (Verlust von anthropologischen Bezugssystemen, Bindungslosigkeit, Isolation etc.) seien viel zu sehr daran orientiert, Fehlendes zu eruieren (Soziales, Geschichte, Verwurzelung, Individualität, Identität), während er, zumindest in seiner einschlägigen Studie, es unterlasse, Vorhandenes zu erkunden (Wissensbestände, Normen, Materialitäten, Atmosphären, persönliche Einstellungen, gesellschaftliche Diskurse etc.) (234-236) [4].typo3/ Genau dieser Aspekt der untersuchten Vorgänge besitze jedoch zentrale Bedeutung.

Kerstin Schaefers Dissertation ist rundherum gelungen - und wir sollten ihr in Zukunft unsere Aufmerksamkeit nicht nur im universitären Unterricht widmen, lässt sie sich doch als einer der ersten ausgesprochen positiven Beiträge zur ANT-Anwendung im Rahmen unserer kulturwissenschaftlichen Disziplin lesen, dies nicht zuletzt auch deshalb, weil zum Thema ein Dokumentarfilm entsteht und weil die Autorin mit ihrem Schlusswort einen Aus- und Einblick in das potentielle weitere Forschungsgeschehen zu geben vermag: „Was für Menschen mit welchen Fähigkeiten sitzen hier (und wer sitzt hier nicht)? Wann und wo müssen die Flugreisenden ankommen und was sind ihre Reisegründe? Wer reist mit ihnen? Welche Sprachen werden von ihnen in welchen Zusammenhängen gesprochen? Wie hängt das Warum ihres Fliegens mit dem Wie zusammen? Womit beschäftigen sich die Passagiere und was beschäftigt sie? Und was sagt das alles über Arbeit, Familie, Liebe, Gesundheit, Migration, Krieg, Alter, Nation oder Urbanität aus?“ (257) Und wenn die Autorin und ihre einschlägigen Forschungskolleg/inn/en dann auch noch die Möglichkeit akzeptieren würden, dass Flugzeugpassagiere nicht erst dann „Teil des Systems Fliegen“ werden, wenn sie den „Check-in“ hinter sich gebracht haben (88), sondern weit früher, dann könnte man von einer ganzheitlichen Forschung sprechen, so wie das bereits in der Fallgeschichte der Flugangstpatientin Rita ansatzweise vorgeführt wird (157-177). Voraussetzung wäre eine kombinierte Untersuchung der Zeiten vor, während und nach der eigentlichen Reise, denn letztlich können die erste Idee und die weitere Planung und Vorbereitung wie auch die Auf- und Nachbereitung eines getätigten Fluges sowie der Flug selbst nicht losgelöst voneinander betrachtet werden, um zu Aussagen über die Bedeutung dieser Aktivität für das Individuum, bestimmte Gruppen wie auch die gesamte Gesellschaft zu gelangen.

[1] Kerstin Schaefer: Die Wilde 13. Durch Raum und Zeit in Hamburg-Wilhelmsburg. Hamburg 2012.
[2] Martina Kleinert: Weltumsegler. Ethnographie eines mobilen Lebensstils zwischen Abenteuer, Ausstieg und Auswanderung. Bielefeld 2015.
[3] Burkhard Fuhs: Dröhnende Motoren, fliegende Kisten, coole Drinks. Die Anfänge des Passagierfluges. Marburg 2000; Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München/Wien 1977; Klaus Beyrer: Die Postkutschenreise. Tübingen 1985; vgl. insgesamt: Wolfgang Kaschuba: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne. Frankfurt am Main 2004.
[4] Marc Augé: Nicht-Orte. München 2010. Eine Aufweichung seines 1992 erstmals publizierten Konzepts kündigt sich in seiner 2008 im französischen Original erschienenen Studie „Le Métro Revisité“ an, in der er zu der Schlussfolgerung gelangt: „le métro n’est pas un non-lieu“, nachdem er den dazugehörigen Transitraum einer genaueren Analyse unterzogen und dort durchaus sozio-kulturelle Qualitäten erkannt hat (33).