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Lutz Vogel
Aufnehmen oder abweisen? Kleinräumige Migration und Einbürgerungspraxis in der sächsischen Oberlausitz 1815-1871
(Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 47), Leipzig 2014, Leipziger Universitätsverlag, 403 SeitenRezensiert von Alexander Schunka
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.04.2018
Manch aktuellen Einlassungen zum Trotz verfügt das Sachsen der letzten fünfhundert Jahre über eine lange und facettenreiche Geschichte als Einwanderungsland. Eine besondere Rolle spielte dabei traditionell der böhmisch-schlesische Grenzraum. Dass die unterschiedlichen Migrationsbewegungen immer auch besondere Herausforderungen auf Seiten der Wandernden wie der Behörden und der Aufnahmegesellschaften mit sich brachten, steht außer Zweifel.
Lutz Vogels Buch widmet sich diesem Thema in regionalhistorischer Perspektive, indem es die Migrations- und Einwanderungspraxis der sächsischen Oberlausitz im 19. Jahrhundert einer Detailstudie unterzieht. Zeitlicher Schwerpunkt sind die Jahrzehnte von der Trennung der Oberlausitz in einen sächsischen und einen preußischen Teil im Jahr 1815 bis zur Reichsgründung 1871. Der aus der Frühen Neuzeit überkommene territoriale Sonderstatus der Oberlausitz und die besondere politische Vielgestalt dieser Landschaft an der Grenze zu Böhmen und Schlesien erweist sich dabei insofern als Glücksfall, als sich administrative, wirtschaftliche und soziale Probleme hier auf ganz unterschiedlichen Ebenen – von der Dresdner Zentrale über die vier Städte Bautzen, Zittau, Kamenz und Löbau bis zu den klösterlichen und weltlichen Herrschaften – herausarbeiten lassen. Günstig ist auch die dichte Überlieferung in sächsischen und Oberlausitzer staatlichen und städtischen Archiven, insbesondere im Staatsfilialarchiv Bautzen, auf deren luzider Analyse das Buch basiert. Sein Verfasser wurde mit dieser Studie im Jahr 2012 an der Technischen Universität Dresden promoviert.
Die Untersuchung gliedert sich in zwei Teile, deren erster die staatlich-administrativen Vorgaben des Umgangs mit Migranten und Zuwanderern in Sachsen nachzeichnet, während der zweite, deutlich umfangreichere Abschnitt den Blick auf die Migrations- und Ansiedlungsvorgänge richtet und dabei nicht nur die Behördenkommunikation herausarbeitet, sondern auch die Migranten zum Sprechen bringt.
Die Entwicklung des sächsischen Staatsangehörigkeitsrechts zeigt, dass die administrativen Rahmenbedingungen von Zuwanderung und Ansiedlung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch auf älteren Regelungen wie dem Oberlausitzer Oberamtspatent von 1732 beruhten und ansonsten von Ad-hoc-Entscheidungen unterschiedlicher lokaler Akteure getragen waren. Zwar kündigte bereits die sächsische Verfassung von 1831 ein eigenes Staatsangehörigkeitsgesetz an, dieses folgte aber (nach dem sogenannten Heimatgesetz von 1834, das vor allem den Umgang der Gemeinden mit auswärtigen Bedürftigen regeln sollte) faktisch erst 1852 und damit vergleichsweise spät. Nunmehr wurden Kriterien für Staatsangehörigkeit und deren Erwerb festgelegt, die Ortsgemeinden entschieden in konkreten Fällen allerdings weiter mit. Im Zuge der Reichseinigung setzte sich der Unterschied zwischen Naturalisierung und Aufnahme bei Reichsausländern respektive innerdeutschen Ausländern durch. Dass sich Sachsen einer einheitlichen Staatsangehörigkeitsregelung lange verschloss, führt der Verfasser auf wirtschaftliche Interessen und den Arbeitskräftebedarf unter den Vorzeichen der Industrialisierung zurück (88) – dieses Zwischenergebnis verweist bereits auf den zweiten Teil der Untersuchung, namentlich auf die Motivationen der beteiligten Akteure. Hier zeigt sich aber auch (wie an anderen Stellen der Studie), dass frühneuzeitliche, oft sehr pragmatische Formen des Entscheidens ad hoc und aufgrund konkreter Problemlagen bis weit ins 19. Jahrhundert weiterwirkten.
Basierend auf den Spezifika oberlausitzischer „Staatlichkeit in einem [...] Grenzgebiet“ (24), das lange Zeit weder über klare Demarkationen noch über entsprechende Kontrollmöglichkeiten jenseits der Ortsgemeinden verfügte, wird im zweiten Teil der Untersuchung die Oberlausitz in einem „transregionalen Optionsraum“ (279, pass.) situiert, der zwischen Böhmen und Schlesien unterschiedliche Formen meist kleinräumiger Migration ermöglichte oder diese gar zu einer lebensweltlichen Selbstverständlichkeit werden ließ. Der Verfasser arbeitet verschiedene Mobilitätsformen luzide heraus (Pendel- und Zirkulärmigration, Formen temporärer, beruflich bedingter Mobilität, seltener: Fernwanderungen), aus denen sich häufig der Wunsch nach dauerhafter Einwanderung und Ansiedlung ergeben konnte. Kleinräumige Migrationen waren im 19. Jahrhundert weit mehr als nur Land-Stadt-Wanderungen im Kontext der Industrialisierung; gleichzeitig aber reagierte das Migrationsgeschehen durchaus auf die wirtschaftlichen Konjunkturen und Marktbedürfnisse ebenso wie auf die politischen Verhältnisse. Vom Arbeitskräftebedarf waren die Städte ebenso geprägt wie der ländliche Raum, der zudem in der Oberlausitz durch Webereihandwerk und Textilgewerbe bedeutsame (proto-)industrielle Strukturen ausprägte. Das Durchschnittsalter der Wandernden lag bei rund 30 Jahren; wandernde Männer wurden generell besser dokumentiert als Frauen, obgleich der Verfasser zurecht darauf hinweist, dass auch von einer signifikanten weiblichen Migration auszugehen ist. Für die lokalen Behörden waren die wirtschaftlichen Verhältnisse der Migranten ebenso wichtig wie deren Qualifikation, oft um einen konkreten Bedarf an Arbeitskräften zu decken und um gleichzeitig unerwünschte Armutsmigranten fernzuhalten. Die Migranten ihrerseits zeigten sich gut informiert und wussten – teils unter Hinzuziehung von Rechtsbeiständen – die Bedürfnisse aufnehmender Gemeinwesen geschickt zu instrumentalisieren, um sich eine erwünschte Verbesserung ihrer persönlichen Situation zu sichern. Häufig gingen Ansiedlungsprozesse aus temporären Migrationen, den dabei gewonnenen Kenntnissen und Kontakten sowie dem bereits zuvor akkumulierten Sozialkapital hervor. Widerstände gegen den Zuzug von Auswärtigen formulierten am ehesten die städtischen Korporationen aus Sorge um eine zu starke Wirtschafts- und Nahrungskonkurrenz. Insgesamt jedoch scheinen mehr Gesuche um Aufnahme in die Staatsangehörigkeit positiv als negativ beschieden worden zu sein.
Die Untersuchung argumentiert durchweg überzeugend auf eindrucksvoller Quellenbasis und mit großer Sensibilität für das verwendete Material und die dahinterstehenden Schicksale der Menschen. Sie ist eingängig geschrieben, gut redigiert und verfügt über hilfreiche und aussagekräftige Anhänge, Tabellen und Diagramme. Einige Ergebnisse mögen für sich genommen im Detail vielleicht nicht allzu neu oder überraschend sein, aber sie werden empirisch schlüssig und auf breiter Quellengrundlage präsentiert. Daraus ergibt sich ein klares Bild des Migrationsgeschehens für die sächsische Oberlausitz, das zum Vergleich mit anders gelagerten Territorien und Epochen anregt. Kritisch einzuwenden wäre allenfalls, dass der Untersuchung bisweilen eine spürbare Modernisierungsperspektive zugrunde liegt, die allerdings genau genommen durch ihre eigenen Ergebnisse gleich wieder in Zweifel gezogen wird. Mobilität und Migration im 19. Jahrhundert stehen in vielerlei Hinsicht den Wanderungsbewegungen früherer Epochen nicht fern. Frühneuzeitliche administrative Strukturen waren denn auch möglicherweise weniger „verkrustet“ und „überkommen“ (vgl. 58) als vielmehr so leistungsfähig und flexibel, dass man lange an ihnen festhielt. Insofern ist es schade, dass die Befunde der Historischen Migrationsforschung zur Frühen Neuzeit in der vorliegenden Studie nur sehr selektiv berücksichtigt worden sind. Dies ändert gleichwohl nichts am wertvollen Beitrag dieses Buches zur Historischen Migrationsforschung und zur Regionalgeschichte der sächsischen Oberlausitz – und nicht zuletzt zur Hoffnung, dass sich die Oberlausitz und Sachsen noch mehr als bislang ihrer historischen Wurzeln als Einwanderungsgebiete bewusst werden mögen.