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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Peter Melichar/Andreas Rudigier/Gerhard Wanner (Hgg.)

Wanderungen. Migration in Vorarlberg, Liechtenstein und in der Ostschweiz zwischen 1700 und 2000

(vorarlberg museum Schriften 21; Schriftenreihe des Arbeitskreises für interregionale Geschichte des Mittleren Alpenraumes 3), Wien/Köln/Weimar 2016, Böhlau, 296 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Edith Hessenberger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.04.2018

Mit diesem Sammelband liegt ein interdisziplinärer und breit angelegter Überblick über das Phänomen der Migration sowie seine sozialen und historischen Implikationen für die Bevölkerung des Mittleren Alpenraumes – aber auch weit darüber hinaus – vor. Insgesamt 16 Beiträge spannen einen Bogen nicht nur über die letzten drei Jahrhunderte, sondern auch über unterschiedlichste Facetten eines Themas, das aktuell nicht nur wissenschaftlich zunehmend, sondern vor allem im Alltagsdiskurs überbordend Beachtung findet. Gerade in diesem Kontext begrüßt der Titel „Wanderungen“ die Leserschaft geradezu freundlich, weil er reduzierter, weicher und vor allem weniger bedrohlich dem aktuell überbelasteten Begriff der Migration („illegale Migration“, „Migrationsströme“ etc.) gegenübergestellt wird. Aufnahmen von Nikolaus Walter, die auf der Titelseite, aber auch in verschiedenen Beiträgen Platz finden, unterstreichen das Ziel eines tieferen Blicks auf das Phänomen Migration auch auf fotografischer Ebene.

Die Herausgeber Peter Melichar, Andreas Rudigier und Gerhard Wanner leiten mit dem Beitrag „Wanderungen im Mittleren Alpenraum“ in das Buch ein, in dem sie zunächst einen Überblick über die Geschichte der Migrationsforschung und schließlich über die Entwicklung des national-staatlichen Interesses von einer Unterbindung von Migration hin zum Ziel einer kontrollierten Migration geben - und damit eine zentrale Dichotomie der Fragestellungen rund um Migration ansprechen. Schade ist einzig, dass gleich auf der ersten Seite aus der medial-inszenierenden Sprache Begriffe wie „anschwellende Flüchtlingsströme“ (7) unkommentiert und ungekennzeichnet übernommen werden (während gerade diese Bilder von August Gächter im letzten Beitrag des Bandes dekonstruiert werden).

Andreas Weigl schafft mit dem Beitrag „Migration, Industrialisierung, Weltkrieg“ einen ausgezeichneten Überblick über die demographische Entwicklung Vorarlbergs und illustriert die demografische Transition an konkreten Beispielen.

Darauf aufbauend gibt Dieter Petras‘ Beitrag „Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1814“ einen detaillierten Überblick über die Migrationsbewegungen in einzelnen Gemeinden. Petras‘ Analysen verdeutlichen nicht nur Hintergründe und Zusammenhänge, wie etwa, dass schlechte landwirtschaftliche Rahmenbedingungen oder überwiegende Nordexpositionen von Gemeindeflächen Emigration begünstigen, sondern illustriert die Auswanderung aus dem Walgau beispielhaft durch einzelne Biografien. 

Einen fesselnden und anschaulichen Beitrag legt Klaus Biedermann zum Thema liechtensteinische Unterschicht-Familien im 19. Jahrhundert vor. Die detailreiche Nachzeichnung der Geschichten einzelner verarmter Familien über zwei bis drei Generationen hinweg stellt eine wichtige Ergänzung zu bisherigen Forschungen rund um „nicht-sesshafte Unterschicht-Familien“ dar. Es stellt sich allerdings die Frage, warum der Autor im gesamten Beitrag auf die Bezeichnung „jenisch“ verzichtet, wo es sich bei den Jenischen in der Schweiz sogar um eine anerkannte nationale Minderheit handelt und die meisten Forschungen zum Thema auch mit dieser Bezeichnung arbeiten.

Nikolaus Hagen befasst sich im nachfolgenden Beitrag „Das Ehepaar Gottfried und Anna Riccabona in Feldkirch“ am Beispiel zweier Familien mit der Frage der Mobilität des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Trotz der Schwierigkeiten bei der Definition und Abgrenzung der Untersuchungsgruppe zeigt Hagen auf, dass die Mobilität gerade im Beamtenbürgertum vor allem innerhalb der Kronländer enorm war.

Anhand beeindruckender historischer Quellen zeichnet Hans Jakob Reich in seinem Beitrag die Rolle italienischer Saisonniers im Bahn- und Kanalbau bzw. die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse nach. Auf Basis von Dokumenten aus kommunalen Archiven rekonstruiert Reich die große Mobilität der Arbeiter von Baustelle zu Baustelle sowie das Einsetzen von Kettenmigration und die Entstehung erster ethno-nationaler Infrastrukturen.

Gerhard Wanner gibt im Beitrag „Migration in Vorarlberg um 1900“ einen umfangreichen und interessanten Überblick über die wichtigsten Aspekte der Zu- und Abwanderung und verdeutlicht die Gleichzeitigkeit beider Phänomene aufgrund unterschiedlicher Verdienstmöglichkeiten: So wurden einerseits Trentiner und Kroaten für die Arbeit auf Baustellen angeworben, während Menschen aus der Vorarlberger Peripherie saisonal emigrierten. Wanner erarbeitet die Darstellungen des Phänomens Migration in Vorarlberg umfassend, signalisiert allerdings teils keine oder zu wenig Distanz zu seinen Quellen (konkret dem Vorarlberger Volksblatt und dem Vorarlberger Volksfreund aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, 135-139) und vor allem zu historischen Bezeichnungen wie „Karrnern“ (139) oder „Zigeunern“ (142). Letztere bezeichnet er ohne Angabe von Gründen sogar als „außereuropäische Volksgruppen“ (142).

Zur jüdischen Geschichte St. Gallens gibt Hanna Zweigs Beitrag einen bewegenden Einblick, insbesondere in Hinblick auf die Vielfalt der jüdischen Gemeinde und die sich daraus ergebenden Konflikte.

Nicole Schwalbach greift in ihrem Beitrag das Thema der „Finanzeinbürgerungen in Liechtenstein 1920 bis 1955“ auf. Dieser Aspekt der Migration ergänzt den Sammelband um eine völlig neue Dimension, nämlich einer „Pseudo-Migration“ durch die Annahme einer Staatsbürgerschaft bei ausbleibender Verlagerung des Wohnsitzes – beziehungsweise bei gleichzeitiger Unmöglichkeit eines Wohnsitzes in Liechtenstein.

Einen allgemeineren Überblick über Migration in Liechtenstein „früher und heute“ gibt im Anschluss Martina Sochin D’Elia, die die wesentlichsten Ereignisse statistisch fundiert zusammenfasst.

„Turksprechende Krim-Tataren“ in Vorarlberg thematisiert Werner Bundschuh in einem nächsten Beitrag. Beginnend mit einem Überblick über die Geschichte dieser ehemals 500000 Menschen umfassenden Gruppe auf der Krim, wird schließlich der Bogen ihrer Geschichte in die Gemeinde Alberschwende geschlagen. Dort hinterließ eine kleine Gruppe Vertriebener Spuren, die zu Anfang dieses Jahrhunderts auch medial Wellen schlugen und verbindend wirkten.

Elmar Hasović zeichnet in seinem Beitrag „‚Bosnische‘ Vereine in Vorarlberg und deren Entstehung“ die Migrationsgeschichte von Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien nach. Ein besonders interessanter Aspekt dieser Arbeit ist Hasovićs Auseinandersetzung mit dem allmählichen Wandel der Bedeutung von Ethnie, Religion und Nation für die Identität der Menschen. Angesichts der zunehmenden ethnoreligiösen Homogenität der Vereinslandschaft stellt Hasović abschließend die nachvollziehbare und wichtige Frage nach den ausschließenden Mechanismen von konstruierter Homogenität.

Den Themenkomplex der Integration greift Petar Dragišić in seinem Beitrag „Ausländer, Österreicher, Vorarlberger“ am Beispiel von Zuwanderern aus dem ehemaligen Jugoslawien in Vorarlberg auf. Dragišić beginnt mit einem Rückblick auf die Ursachen der jugoslawischen Arbeitsmigration und spannt den Bogen hin zu den zentralen Markern der Integration (orientiert an der TIES-Studie), die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien eine starke Identifizierung mit Österreich und der deutschen Sprache attestieren, aber zugleich eine schlechte soziale Mobilität dieser Bevölkerungsgruppe aufzeigen.

Hüseyin I. Ҫiҫek analysiert die Geschichte „Türkischer Migration nach Vorarlberg im Kontext individueller Gesellschaftserfahrungen“ und thematisiert das Phänomen von Distanzierungsprozessen im Rahmen von Migration und Integration. Abschließend verdeutlicht Ҫiҫek seine Ausführungen am Beispiel der Biografien zweier Männer, die selbst aus der Türkei nach Österreich gezogen sind.

Hier schließt Oliver Heinzle mit einer „kleinen Alltagsgeschichte der frühen Zuwanderung aus der Türkei nach Vorarlberg“ an und gibt am Beispiel mehrerer in der Türkei geborener Personen in Form von Interviewausschnitten Einblicke in die Lebens- und Erfahrungswelten von Migranten.

Einen stimmigen Abschluss des Bandes stellt der Beitrag August Gächters dar, der unter dem Titel „Nach den ‚Gastarbeitern‘ – Einwanderung in Vorarlberg seit 1985“ nicht nur statistisch subsumierend, sondern auch mit klaren Worten in Bezug auf die Migrations- und Integrationspolitik Österreichs während der letzten drei Jahrzehnte, den Bogen ins Heute schlägt. Gächter zeigt reformerische Versäumnisse (etwa im Bereich Arbeitsmarkt oder in Bezug auf das Bildungssystem) auf und veranschaulicht diese mittels konkreter Zahlen.

Dass der Sammelband zu einem politisch und sozial brisanten Thema mit einem eindringlichen Appell schließt, unterstreicht, dass das vorliegende Buch sich um eine umfassende Betrachtung seines Themas bemüht und damit am Puls der Zeit ist. Lediglich eine höhere sprachliche Sensibilität zum Thema wäre gerade bei den behandelten Fragestellungen wünschenswert. Wo der Sammelband in Bezug auf Sichtbarmachung, Anerkennung und Teilhabe vorbildlich konzipiert ist, sollten auch Begriffe wie „Zigeuner“, „Karrner“ oder „Flüchtlingsströme“ ausschließlich kommentiert verwendet werden.

Mittels der 16 sehr unterschiedlichen und reichhaltigen Beiträge ist es gelungen, einen Überblick über die wichtigsten und interessantesten Aspekte regionaler und überregionaler Migration in den vergangenen drei Jahrhunderten zu schaffen. Die Autorenschaft der Beiträge ist ebenso vielfältig (in Bezug auf persönliche Migrationserfahrungen) wie interdisziplinär und als Draufgabe wird das Buch angenehmerweise mit einem Namens- und Ortsregister am Ende abgerundet. Mit „Wanderungen“ liegt jedenfalls ein Sammelband vor, an dem keine Forschungsarbeit zu verwandten Fragestellungen in Westösterreich, Liechtenstein und der Ostschweiz vorbeikommen dürfte.