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Marina Schmieder

Ein Stück Daheim. Kulturgeschichte im Umfeld von Spätaussiedlern

(Materialien & Studien zur Volkskultur und Alltagsgeschichte Niedersachsens 48), Cloppenburg 2017, Museumsdorf, 204 Seiten mit zahlr. Abbildungen
Rezensiert von Sönke Friedreich
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.04.2018

Die vorliegende Publikation erschien als Begleitbuch zur Ausstellung „Ein Stück Daheim. Spätaussiedler im Oldenburger Münsterland“, die vom 8. September bis 29. Oktober 2017 im Museumsdorf Cloppenburg gezeigt wurde. Das Thema Migration ist in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Museen gerückt, eine Entwicklung, die in Cloppenburg bereits 1999 durch die Ausstellung „Fremde in Deutschland – Deutsche in der Fremde“ vorweggenommen worden ist. In diesem Zusammenhang ist auch die Geschichte des regionalen Zuzugs von Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion von Bedeutung, die bis heute im Oldenburger Münsterland eine durchaus kulturprägende Rolle gespielt hat und dabei auch Fragen berührt, die in übergeordneten Diskursen – etwa um die Bestimmung von „Heimat“ – von Bedeutung sind. Die Verfasserin, selbst Russlanddeutsche, hat durch ein mit der Ausstellung verbundenes Zeitzeugen-Projekt, in dessen Rahmen sie im Jahr 2015 etwa 100 lebensgeschichtliche Interviews führen konnte, einen subjektorientierten Zugang gewählt, der vertiefende Aussagen über Alltag und Lebenswelt der Russlanddeutschen ermöglichen sollte. Der Kontakt zu den Interviewpartnern und -partnerinnen erlaubte zugleich den Zugang zu Museumsobjekten, in erster Linie Erinnerungsstücke, persönliche Dokumente und Fotografien, die in der Ausstellung gezeigt wurden. In der Kombination von musealen Objekten und Zeitzeugenaussagen sollte ein facettenreiches Bild der Kulturgeschichte der Aussiedler gezeichnet werden.

Die einzelnen Kapitel des Bandes lassen sich in zwei größere Blöcke zusammenfassen: In den ersten drei Kapiteln, die etwa die Hälfte des Gesamtumfangs ausmachen, wird die Herkunft und Vorgeschichte der Aussiedler seit dem Ersten Weltkrieg dargestellt, die anschließenden sechs Kapitel behandeln die Auswanderung und Ansiedlung in Deutschland, die sprachliche und berufliche Eingliederung, die Wohnsituation, das geistliche Leben sowie die Freizeitgestaltung, insbesondere vor dem Hintergrund der Sozialbeziehungen zu den Einheimischen und der Frage der kulturellen Identität. Dabei wird ein außerordentlich inhaltsreiches und differenziertes Panorama entfaltet, anhand dessen die Vielfalt der Auswandernden bezüglich der regionalen Herkunft, der Konfession, des sozialen Status und auch des Verfolgungsschicksals deutlich wird. Das Geschichtsbewusstsein vieler Familien sowie der Versuch, kulturelle Identität(en) zu bewahren bzw. angesichts des Verlustes der „traditionellen russlanddeutschen Kultur“ (63) neu zu definieren, ließen bei vielen Menschen ein stark ausgeprägtes Verständnis für die Zeitgebundenheit des eigenen individuellen Schicksals entstehen. Der Verfasserin gelingt es, in der Kombination von Interviewaussagen und Fotografien dieses Selbstverständnis nachzuzeichnen. Dabei ist der Randseiter-Status, den viele Russlanddeutsche in der Sowjetunion erlebten und der zahlreiche Erfahrungen von Verbannung und Verfolgung einschloss, für die Gruppenidentität prägend gewesen, eine Erfahrung, die sich teilweise nach der Umsiedlung nach Deutschland in abgeschwächter Form wiederholte. Maßgebend für heutige Lebenswelten von Aussiedlern ist vor allem die Ausreisewelle in den frühen 1990er-Jahren, die nach dem Ende der Sowjetunion einsetzte. Zahlreiche Interviewpassagen verdeutlichen die individuellen, kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringenden Erfahrungen mit der Ausreise, der Wohnungs- und Arbeitssuche und der Kontaktaufnahme mit einem neuen sozialen Umfeld. Zu einem wichtigen kulturellen Anker wurde in Deutschland die Kirche, die für die Neubeheimatung bis heute eine große Rolle spielt. Diese und andere Institutionen stellten die Fundamente von Netzwerken dar, die größtenteils auf Gruppen von Russlanddeutschen beschränkt blieben, einer grundlegenden „Passivität im gesellschaftlichen und politischen Leben“ (169) jedoch nicht entgegenstanden.

Der Verfasserin gelingt es, auf relativ kleinem Raum eine Fülle an Zeitzeugenaussagen, Fotografien und Objektabbildungen zu einem faktenreichen Bild zusammenzufassen und damit ein wichtiges Kapitel der (regionalen) Migrationsgeschichte vorzustellen. Dass sich gelegentlich eine gewisse Unübersichtlichkeit des Materials einstellt und an vielen Stellen eine vertiefende kulturwissenschaftliche Analyse der Quellen wünschbar wäre, wird man daher ohne weiteres verschmerzen können. Das Bild, welches der Band vom Ankommen in Deutschland und von den Begegnungen im neuen sozialen Umfeld zeichnet, ist insgesamt deutlich positiv akzentuiert – die Aussiedler fühlten sich, so das Fazit der Verfasserin, „mehreren Kulturen zugehörig und bewahrt[en] viele Identitäten“ (194). Ob die Übersiedlung der Russlanddeutschen in diesem Sinne einen Erfolg der Migrationsgeschichte darstellt, wird indes wohl eher in fernerer Zukunft beurteilt werden können. Vor dem Hintergrund jüngerer Debatten um gegenwärtige Migrationsbewegungen wäre außerdem zu wünschen, dass die in der vorliegenden Publikation eingenommene Perspektive vergleichend erweitert würde.