Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen

Gabriele Münter und die Volkskunst. „Aber Glasbilder scheint mir, lernten wir erst hier kennen.“

Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Schloßmuseum Murnau und im Oberammergau Museum vom 27. Juli bis 12. November 2017, Murnau 2017, Schloßmuseum Murnau/Oberammergau, Oberammergau Museum, 136 Seiten mit zahlr. Abb.
Rezensiert von Jochen Ramming
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.04.2018

Die in der grundsätzlichen Kritik an den künstlerischen Ausdrucksformen des Historismus wurzelnde Faszination der Künstlerinnen und Künstler des „Blauen Reiters“ für Erzeugnisse so genannter Volkskunst – insbesondere für Hinterglasbilder und Kleinplastiken – fand ihre nahezu zeitgleiche Entsprechung in der Entdeckung dieser gestalteten Objekte aus bäuerlich-ländlichen Kontexten durch die Kunstwissenschaft und die Feuilletons: „Das Hinterglasbild ist das Volkslied in der Geschichte der Malerei“, formulierte der Essayist Max Picard 1917 treffsicher [1].typo3/ Druckwerke wie seine mehrfach aufgelegten Bilderserien „Expressionistische Bauernmalerei“ sorgten dafür, dass sich das eigentlich inhomogene Objektsammelsurium aus meist hausgewerblicher Produktion zu einem festen kunstwissenschaftlichen Gattungsbegriff, nämlich zur „Volkskunst“, formieren konnte. Die volkskundliche Forschung beschränkte sich in der Folge auf eine Ausdifferenzierung einzelner Erscheinungsformen derartiger „Volkskunst“ und nutzte dabei vornehmlich das Methodeninventar der klassischen Kunstgeschichte zur Beschreibung und Einordnung. Erst die Volkskunst-Debatte der 1970er und 1980er Jahre zeigte neue kulturwissenschaftliche Forschungsansätze auf und leitete zugleich eine stetig wachsende Distanzierung von der klassischen Kunstwissenschaft ein. Nur vereinzelt wurden die sich verschärfenden – nicht zuletzt in unterschiedlichen Begriffsdefinitionen greifbaren – Gegensätze noch überbrückt. Wolfgang Brückner unternahm 1995 einen solchen (im vorliegenden Katalog nicht rezipierten) Versuch ausgerechnet am Beispiel des „Blauen Reiters“ [2].typo3/

Die vom Schloßmuseum in Murnau und dem Oberammergau Museum anlässlich des 140. Geburtstags von Gabriele Münter an beiden Standorten realisierte Ausstellung „Gabriele Münter und die Volkskunst“ sollte nun Anlass bieten, die Rolle von Objekten der „Volkskunst“ in der Kunst Münters und der klassischen Moderne aus unterschiedlichen Perspektiven neu zu betrachten und dabei gegebenenfalls Verständigungsschwierigkeiten zwischen Kunst- und Kulturgeschichte zu überbrücken. Eine nahtlose Übereinstimmung im Themenzugriff und beim Begriffsgebrauch konnte und sollte dabei freilich nicht hergestellt werden, stattdessen legten die verantwortlichen Kuratorinnen Sandra Uhrig (Schloßmuseum Murnau) und Constanze Werner (Oberammergau Museum) ihr Augenmerk vor allem darauf, aus den verschiedenen Betrachtungswinkeln ein möglichst umfassendes Panorama zu entwerfen. Daher baten sie die ehemalige Leiterin der Volkskundlichen Abteilung im Bayerischen Nationalmuseum Nina Gockerell um einen Gastbeitrag im Katalog aus dezidiert volkskundlicher Sicht.

Den Auftakt macht allerdings Constanze Werner mit dem Artikel „Gabriele Münter im Kontext von Volkskunst als Inspiration, Sammelgegenstand und Stil“. Die Leiterin des Oberammergau Museums versucht, Münters Begeisterung für alpenländische Glasmalerei und Kleinschnitzerei in den Kontext einer allgemeinen Entdeckung der Volkskunst um 1900 zu stellen. Dass es sich dabei um einen „bislang unbeachteten Zusammenhang“ handelt (7), darf bezweifelt werden. Auch überzeugen nicht alle Verbindungslinien, die die Autorin dabei zieht, etwa wenn sie Münter und Kandinsky bei der Gartenarbeit in oberbayerischer Tracht zu direkten Nachfahren des absolutistischen Adels bei seinen Schäferspielen erklärt. Weit entscheidender sind die Hinweise auf die vom bayerischen Königshaus im Lauf des 19. Jahrhunderts initiierten Bemühungen um Kunstaltertümer und immaterielle Überlieferungen sowie die unter anderem daraus erwachsende Kunstgewerbebewegung. Von hier aus führen breite Wegschneisen direkt ins Oberbayerische, etwa nach Murnau zum Braumeister Johann Krötz und zu seiner über 1000 Stücke zählenden Sammlung regionaler und überregionaler Hinterglasbilder, oder nach Oberammergau zum Schnitzwarenverleger Guido Lang, der am Ort ein Museum für Erzeugnisse des örtlichen Kunsthandwerks errichten ließ. Solche individuellen Initiativen fanden bereits 1902 im Münchner „Verein für Volkskunst und Volkskunde“ zusammen, dem zunächst jedoch vor allem Großstadtbürger und zahlreiche Architekten angehörten. In diesem geistigen und gesellschaftlichen Umfeld verortet die Autorin Münters und Kandinskys Volkskunst-Interesse, das nicht zuletzt in deren aufmerksamem Studium der Sammlung Krötz und dem Unterricht seinen Ausdruck fand, den Münter beim letzten Murnauer Glasmaler Heinrich Rambold nahm. Prägende Künstlerpersönlichkeiten der Moderne fügen sich so nahtlos in die Modernisierungstendenzen der Zeit nach 1900 ein, scheinbar weit mehr rezipierend als selbst gestaltend.

Sandra Uhrig vom Murnauer Schloßmuseum wählt in ihrem Beitrag „Gabriele Münter und die Volkskunst im Spiegel ihrer Lebensstationen“ die entgegengesetzte Perspektive, indem sie chronologisch Münters Werke mit den zeitgleichen Lebensumständen abgleicht und nach der jeweiligen Rolle der Volkskunst fragt. Ausgangspunkt ist dabei der Erwerb eines Wohnhauses in Murnau durch Gabriele Münter im August 1909, das sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Wassily Kandinsky mit örtlichen Schreinermöbeln, Hinterglasbildern, Schnitzfiguren und bäuerlich gemusterten Textilien einrichtete. Das Paar legte dabei auch immer wieder selbst mit Pinsel und Farbe Hand an. Bald breitete sich ihre Volkskunst-Sammlung auch auf die gemeinsame Münchner Wohnung in der Ainmillerstraße aus und fand Eingang in Münters künstlerische Arbeit. Sie begann einerseits selbst Hinterglasbilder zu malen und bildete sie – zusammen mit verschiedenen volkstümlichen Kleinplastiken – auf Ölgemälden vor allem der Jahre zwischen 1909 und 1912 ab. In einem „dunklen Stillleben mit Figürchen“ sieht Uhrig Münters depressive Stimmung während einer Russlandreise Kandinskys. In glücklicheren Zeiten in ihrem Haus in Murnau entstanden hingegen hellere und alltäglichere Gemälde, wie etwa das „Stillleben mit Herrgottswinkel“, wohingegen sich im Gemälde „Die Klage“ von 1915, das eine Zimmerwand mit Kreuzigungsgruppe zeigt, dann bereits die Gräuel des Ersten Weltkriegs abzeichnen sollen. Während Münter ab 1916 in Skandinavien vergeblich auf ein Wiedersehen mit Kandinsky wartete, griff sie wieder auf die Hinterglastechnik zurück und stellte 1918 und 1919 in Kopenhagen jeweils rund 20 Hinterglasbilder aus. Außerdem erwarb sie neue Nippesfiguren – nun aber aus schwedischen und britischen Herstellungsorten – und fügte sie dem Figurenarsenal ihrer Stillleben hinzu. Abschließend führt Sandra Uhrig eine Reihe weitere Künstlerinnen und Künstler auf – von Kandinsky und Alexej Jawlensky über Franz Marc bis hin zu Hermann Stenner –, die ebenfalls in bestimmten Lebensabschnitten Inspiration aus Hinterglasbildern zogen.

Die Verbindung zwischen den beiden Aufsätzen der örtlichen Museumsleiterinnen stellt schließlich Nina Gockerell mit ihrem Beitrag „Gabriele Münter und ihre Volkskunstsammlung“ her. Sie verweist auf die Entstehung erster volkskundlicher Sammlungen (Rudolf Virchow) und frühe Darstellungen zur Volkskunst (Alois Riegl) und benennt dahinterstehende Strömungen, insbesondere die Ablehnung der industrialisierten Moderne und die Kunstgewerbebewegung. Ihr eigentliches Interesse gilt allerdings der Identifizierung der volkskundlichen Objekte auf Münters Bildern, die sich zu einem beachtlichen Teil bis heute in den Künstlernachlässen erhalten haben. Den Sammlungsauftakt machte Kandinsky bereits 1889, als er eine Forschungsreise ins russische Gouvernement Wologda unternahm. Bei seiner Ankunft 1896 in München hatte er wohl erste russische Figürchen aus Sergejew Possad mit dabei, die später ebenso den Weg auf Münters Stillleben fanden wie ein so genannter „Kovsch“ und ein großer russischer Bilderbogen. Gockerell identifiziert auch die Kleinplastiken, die Gabriele Münter in der Folge auf Dulten und in Trödelläden erstand: Altöttinger Gnadenbildkopien, eine Herzogspital-Muttergottes oder eine fast bis zur Unkenntlichkeit entstellte Devotionalkopie des Ettaler Gnadenbildes. In Skandinavien kamen zuletzt ein Dalarna-Pferd und ein Kaminhund dazu. Es gelingt Nina Gockerell in ihrem Beitrag, eine Vielzahl der auf Münters Gemälden sichtbaren Gegenstände korrekt zu benennen und damit die Entstehungshintergründe der Kunstwerke weiter auszuleuchten. Dabei spielt die Volkskunde jedoch fast ausschließlich die Rolle einer Hilfswissenschaft für die Kunstgeschichte. Zwar kann Nina Gockerell dazu auf die breite Grundlage ihrer eigenen Forschungsergebnisse zurückgreifen, sie formuliert aber keine eigenen Fragestellungen zum Thema.

Möglicherweise zeigt sich hier eine weiterreichende Tendenz volkskundlich-ethnologischer Forschung, die derzeit nicht daran interessiert scheint, zeitgemäße Fragen an reale historische Objekte zu stellen. Die materielle Kultur spielt im disziplinären Diskurs nurmehr eine untergeordnete Rolle, es fehlt an relevanten Forschungsansätzen und -ideen. Während die Kunstgeschichte sich unverbrüchlich an den Gegenständen ihrer Disziplin abarbeitet, findet die Europäische Ethnologie/Volkskunde momentan keinen zukunftsweisenden Zugang zu den Objekten, die bis vor Kurzem noch zum festen Forschungskanon des Faches zählten. Der eingangs erhoffte Dialog mit der Kunstgeschichte auf Augenhöhe kann – das zeigen die Katalogtexte deutlich – auf dieser Grundlage nicht geführt werden. Vielleicht braucht es auf dem Forschungsfeld der materiellen Kultur neue Gesprächspartner.


[1] Max Picard: Expressionistische Bauernmalerei. München 1917, letzte Seite.
[2] Wolfgang Brückner: Der Blaue Reiter und die Entdeckung der Volkskunst als Suche nach dem inneren Klang. In: Gottfried Boehm u. Helmut Pfotenhauer (Hgg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995, S. 520-542.