Aktuelle Rezensionen
Matthias Debureaux
Die Kunst, andere mit seinen Reiseberichten zu langweilen
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, München 2017, Nagel & Kimche, 110 SeitenRezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.04.2018
Es ist geradewegs zu bedauern, dass die Enzyklopädie des Märchens den Artikel „Tourismus“ bereits vergeben hat und der Nachträge publizierende Band 14, Lieferung 4, bereits Ende des Jahres 2014 erschienen ist. Das hier zu besprechende Büchlein von Matthias Debureaux hätte nämlich unbedingt Erwähnung finden müssen. Bei oberflächlicher Lektüre kann es durchaus passieren, dass man es jenem durchaus neueren Genre fiktionaler wie auch non-fiktionaler Literatur zuordnet, welche sich kritisch und selbstkritisch, zumeist angereichert durch eine kräftige Portion Humor, mit dem Tourismus und den Touristen auseinandersetzt. Dazu lassen sich etwa diese drei Titel zählen: Tilman Birrs „On se left you see se Siegessäule. Erlebnisse eines Stadtbilderklärers“ (München 2012), Sven Siedenbergs „Ich nix Tourist. Warum es schöner ist, nicht in den Urlaub zu fahren“ (München 2010), schließlich Dietmar Bittrichs „1000 Orte, die man knicken kann“ (Reinbek 2010). In eine ganz andere, weit ernsthaftere Sphäre führt uns der Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker Pierre Bayard ein, wenn er am Beispiel des „sesshaften Reisenden“ sowie der verschiedenen „Arten des Nichtreisens“ literarisch festgehaltene Reiseerfahrungen diskutiert, dies zum Thema „Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist“ (München 2013).
Matthias Debureaux wählt eine Art Mittelweg. Er wertet nicht etwa Werke der Belletristik oder der Poesie, gedruckt vorliegende Reiseberichte oder Reisehandbücher und dergleichen aus, sondern er bezieht sich weitgehend auf den Sektor mündlicher Kommunikation und präsentiert in diesem Kontext eine kurzweilige, mit der Darstellungshaltung der Übertreibung spielende Parodie der marktgängigen einschlägigen Beratungsliteratur. Ausgehend von der Hypothese „nichts ist berechenbarer als ein Reisebericht“, verfolgt er mit dem Büchlein das Ziel, „das Handbuch des vollendeten Entdeckers vor[zulegen]: So beherrschen Sie bald die Kunst, andere mit Ihren Abenteuergeschichten zu benebeln und sanft mundtot zu machen.“ (13)
Der Band selbst ist gegliedert nach nicht eigens kenntlich gemachten Kapiteln: einer Einleitung (7-13), einem ersten Hauptteil mit Tipps zur effektvollen und somit erfolgreichen mündlichen Wiedergabe und Kommentierung der eigenen Erlebnisse vor einem als Freundeskreis zu betrachtenden Publikum, dies nach der Rückkehr von der Reise (14-70), einem zweiten Hauptteil mit Tipps zur ebenso effektvollen und erfolgreichen Wiedergabe und Kommentierung der eigenen Erlebnisse mittels neuer, also digitalisierter Kommunikationstechnik während der Phase des eigentlichen Unterwegs-Seins (71-88), schließlich einem abschließenden Teil mit Tipps zur effektvollen und erfolgreichen Wiedergabe und Kommentierung der eigenen Erlebnisse mittels flankierender Gestaltungsaktivitäten etwa in den Bereichen der eigenen Bekleidung oder der Wohnungseinrichtung (89-109).
Wenn wir davon ausgehen, dass Parodien bestimmt werden „durch eine negative Tendenz gegenüber dem Hergebrachten [...]. Sie haben eine Tendenz zum Widerspruch“ [1],typo3/ so ist der Frage nachzugehen, worin konkret das „Hergebrachte“ besteht. Und da kann das Lesepublikum des Autors Matthias Debureaux ganz sicher auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, gleich ob jen- oder diesseits des Rheins. Wer hat nicht schon einmal die verschiedenen Formen, Ausschmückungen, Übertreibungen, tendenziellen Unwahrheiten und aller Welt bekannten sogenannten „Geheimtipps“ als Bestandteile mündlich vorgetragener Reiseberichte mitbekommen? Und wer hat noch nicht den Verdacht entwickelt, dass alle diese Berichte sich immer wieder von neuem auf eine Handvoll von „Erzählmodellen“ (41) reduzieren lassen, gleich ob man selbst an dieser Form von Kommunikation partizipiert oder nicht? Die kulturwissenschaftliche Forschungsliteratur spricht diese Thematik längst an, man nehme nur Orvar Löfgrens „On Holiday. A History of Vacationing“ zur Hand; da gibt es ein Kapitel „Telling Stories“ [2]; typo3/Elisabeth Fendl und Klara Löffler haben über den Diaabend gearbeitet [3] und Jana Binder über eine breite Vielfalt an Repräsentationen von Rucksacktouristen [4].typo3/
Was in der kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung jedoch bisher nicht vorliegt, nämlich eine systematische, historisch und gegenwartsbezogen ausgerichtete Studie zum Thema „Wenn jemand eine Reise thut, so kann er ’was verzählen“ (Matthias Claudius: Liedtext „Urians Reise um die Welt“, 1786, Eingangszeile), das wird auch von Debureaux‘ Büchlein auf 102 Textseiten nicht geleistet. Gleichwohl entwickelt der Autor spielerisch und unterhaltsam etliche Kriterien, welche eine derartige Studie zu berücksichtigen hätte.
[1] Lutz Röhrich: Gebärde, Metapher, Parodie. Studien zur Sprache und Volksdichtung. Düsseldorf 1967, S. 215.
[2] Berkeley/Los Angeles/London 1999, S. 72-106.
[3] Elisabeth Fendl u. Klara Löffler: Die Reise im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit: zum Beispiel Diaabend. In: Christiane Cantauw (Hg.): Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag. Münster/New York 1995, S. 55-68.
[4] Jana Binder: Globality. Eine Ethnographie über Backpacker. Münster 2005.