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Simon Goebel

Politische Talkshows über Flucht. Wirklichkeitskonstruktionen und Diskurse. Eine kritische Analyse

(Cultural Studies 49), Bielefeld 2017, transcript, 433 Seiten mit 7 Abbildungen
Rezensiert von Jan Lange
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.04.2018

Das Forschungsfeld der Refugee Studies ist spätestens seit der Überwindung der EU-Außengrenzen durch über eine Million Flüchtender im Sommer 2015 am Expandieren. Erste Arbeiten volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Prägung beschäftigen sich neben dem Verhältnis von europäischem Grenzregime und Flüchtenden vor allem mit deren Ankommen an konkreten Orten, insbesondere auch im Austausch mit Nachbarschaften und kommunalen Behörden. Simon Goebel erweitert diesen Fokus mit der vorliegenden Arbeit. Er untersucht, wie in Polittalk-Sendungen das Thema der Flucht bzw. das Ankommen von Flüchtenden in Deutschland verhandelt wird. Das umfangreiche Buch gliedert sich gemäß der klassischen Aufteilung in eine das Thema und die Fragestellung klärende Einleitung, Theorie und Methode, die Auswertung und ein Resümee. Goebel konzentriert sich in seiner Analyse auf 15 Sendungen der öffentlich-rechtlichen Programme ARD und ZDF aus den Jahren 2011-2014. Innerhalb dieser Zeitspanne wurde die Palette der diskursiven Ereignisse ausgehend von den ‚arabischen Revolutionen‘ um die auch noch gegenwärtig in der Diskussion befindlichen Themen wie Asylgesetzänderungen, Ressentiments gegenüber bzw. Solidarität mit Geflüchteten, das Erstarken der politischen Rechten etc. erweitert. Durch den gewählten Analysezeitraum wird es laut dem Autor möglich, „die Frage zu beantworten, ob sich Fluchtdiskurse in divergenten diskursiven Zusammenhängen unterscheiden“ (27). Die mit dem ‚Sommer der Migration‘ rasant steigende Anzahl von Sendungen zum Thema findet keinen Eingang in die Analyse, da „sich der diskursive Kontext im Jahr 2015 nicht weiterentwickelte“ (27). Diese Setzung unterschlägt m. E., dass sich die Positionen der Parteien, die einen Großteil der Gäste der Talk-Sendungen stellen, zu diesen Themen im Lauf der Zeit teilweise jedoch erheblich verändert hat.

Grundlegend arbeitet Goebel eingangs heraus, dass erstens die Repräsentation (flucht-)migrantischer Erfahrungen in den seltensten Fällen durch die Betroffenen selbst, sondern zumeist von mehr oder weniger zur Differenzierung gewilltem politischen Personal übernommen wird und zweitens Migration dabei häufig mit negativ konnotierten Kontexten verhandelt wird. An Stelle eines Redens mit MigrantInnen dominiert ein Reden über diese. Angesichts dieses Sachverhalts favorisiert Goebel eine machtkritische Perspektive, die er im zweiten Teil des Buches in der Auseinandersetzung mit Konzepten aus der Europäischen Ethnologie sowie den Cultural Studies ausarbeitet. Erstere dienen insbesondere dazu, das die Forschung informierende konstruktivistische und antiessentialistische Kulturverständnis zu begründen. Zweitere werden zur Einkreisung des Verhältnisses von Populärkultur und Macht, Medien und RezipientInnen sowie einer Verständnislegung der in Polit-Talkshows präsentierten Diskussionsstandpunkte als Ideologie herangezogen. Die Talkshows selbst rechnet Goebel der Populärkultur zu. Sie sind weniger auf Konsens denn auf die Markierung von konfliktiven Positionen und die „Vermischung und Überschneidung von Informationen und Unterhaltung“ (98) ausgerichtet. Der Cultural-Studies-Ansatz dient dem Autor ebenfalls zur Entwicklung seines Analyseinstrumentariums, das auf eine qualitativ-interpretative Verfahrensweise hinausläuft. Die methodologischen Ansätze der Cultural Studies verknüpft Goebel dabei mit der Kritischen Diskursanalyse sowie der als „Medienanalyse“ bezeichneten hermeneutischen Fernseh- und Dokumentarfilmanalyse (112).

Einen weiteren Baustein der Theoriereflexion stellt die Migrations- und Flüchtlingsforschung dar. Zu Recht stellt er fest, dass die Migrationsforschung die längste Zeit die Problematisierungen und Kategorisierungen nationalstaatlicher Prägung übernommen hat und sich erst in jüngerer Vergangenheit von diesen zu lösen begonnen hat. Die Darstellung ist in erster Linie ein Abriss sowohl theoretischer Bezugspunkte der Migrationsforschung als auch der erfolgten Einwanderung nach Deutschland. Die aktuellen methodologischen und theoretischen Debatten in diesem Forschungsfeld werden zwar genannt, allerdings kaum ausgeführt und fallen eher hinter die Darstellung der auf die jüngere Vergangenheit ausgerichteten „Infragestellung ihrer Kategorienbildung“ zurück. Zwar ist dem Autor durchaus zuzustimmen, wenn er in diesem Unterfangen für die kulturwissenschaftliche Flüchtlingsforschung konstatiert, dass „diese im deutschsprachigen Raum kaum vorhanden ist“ (73). Schade ist dennoch, dass diesem Urteil keine Auseinandersetzung mit früheren Arbeiten zum Thema aus dem Fach, wie etwa dem langjährigen und umfangreichen Tübinger Forschungsprojekt „Neue Siedlungen“ (1959), folgt. Gerade für LeserInnen der Europäischen Ethnologie wäre die Auseinandersetzung mit den bis dato zum Einsatz gekommenen volkskundlichen Denkwerkzeugen im Sinne einer fachlichen Selbstverständigung sicherlich interessant gewesen.

Im Zentrum des anschließenden Teils des Buches stehen die „Polittalk-Analysen“ und damit die Auswertung des empirischen Materials. Die Aussagen aus den 15 Talkshows werden hierzu in sechs Unterkapiteln präsentiert. In diesen wird jeweils ein übergeordneter Diskursstrang verfolgt. So gelingt es Goebel herauszuarbeiten, wie in den Talk-Sendungen - trotz heterogener Auswahl der Gäste - die Interpretation von Migration als Abweichung von der Norm bzw. der Flüchtenden als Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung reproduziert wird. Durchaus spannend sind allerdings auch die in den anderen Kapiteln erfolgenden Auswertungen der Diskursstränge, die einen vertieften Einblick in die „Konsolidierung der Differenzlinie zwischen ‚den Deutschen‘ und ‚den Geflüchteten‘“ (293), die Stimmung gegenüber den Geflüchteten, die Dominanz rechtspolitischer Semantik und Skandalisierung oder in ökonomistische „Nützlichkeitserwägungen“ (381), denen zufolge Geflüchtete ein Korrektiv der Fehlentwicklungen des Arbeitsmarktes sein können, gewähren.

Der Vorteil der Textanordnung liegt dabei in der Stringenz, mit der die verschiedenen Aussagesysteme analysiert werden können. Gleichzeitig reihen sich in den Kapiteln stets Aussagen verschiedener Sendungen aneinander, die alle den jeweiligen Diskurs stabilisieren. Hierdurch entstehen ungebrochene Darstellungen, die einem als Lesenden die Frage aufdrängen, ob der Einbezug von Kontroversen und Einsprüchen aus den Sendungen nicht ein Gewinn gewesen wäre, um dem Eindruck der ‚glatten Inhalte‘ vorzubeugen. Zugleich hätte so differenzierter untersucht werden können, inwieweit etwa in Talkshows Gegendiskurse entwickelt werden können und beispielsweise Zurückweisungen rechter Aussagen nicht auch eine Perspektive auf Geflüchtete als Regulierungsobjekt einnehmen müssen, um in diesem Setting legitim zu sein. So ist Goebels Fazit, dass politische Talkshows „Wiederkäuer“ hegemonialer Diskurse seien, denen es nicht gelänge, „Themen zu setzen oder innovativ zu bearbeiten“ (401), nach der Lektüre der empirischen Kapitel zwar stimmig, aber es bestätigt überraschend gradlinig das, was man zu Beginn des Buches beim Lesen des Kapitels zur Ideologiekritik durch die Cultural Studies schon erwartet hat. Insgesamt vermag es diese kritische Anmerkung allerdings nicht, die Leistung der detailreichen Forschungsarbeit in den Schatten zu stellen. Der Autor hat ein Aushandlungsfeld gesellschaftlicher Deutungen und Wertungen von Flucht und Flüchtenden auf innovative Weise untersucht. Über das Thema hinaus verdeutlicht die Arbeit den methodologischen (Mehr-)Wert des engen Zusammendenkens von Cultural Studies und Europäischer Ethnologie.