Aktuelle Rezensionen
Karl Braun/Felix Linzner/John Khairi-Taraki (Hgg.)
Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer "Aufrüstung"
(Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13), Göttingen 2017, V&R unipress, 275 Seiten mit Abb.Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.04.2018
Das auf der Jugendburg Ludwigstein in Nordhessen befindliche Archiv der deutschen Jugendbewegung – das als wichtigstes Archiv zur Geschichte der Jugendbewegung gilt – gibt seit 1969 ein eigenes Jahrbuch heraus, das kontinuierlich mit substantiellen Beiträgen zur Geschichte der Jugend, der Jugendbewegung und der angrenzenden Reformbewegungen aufwartet. Der 13. Band dieses Jahrbuchs – früher als „Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung“ bekannt, seit einigen Jahren fortgeführt als „Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch“ der Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung – ist, wie schon oft, als Themenband konzipiert. Dieser Band fasst einen Teil der Beiträge der jüngsten Archivtagung von 2016 in sich, die sich mit „Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer ‚Aufrüstung‘“ auseinandergesetzt hat.
Historische Studien zur Biopolitik haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen, und zugleich befassen sich etliche historische Disziplinen auch mit Körpertheorien und -praktiken in der Moderne. Im Mittelpunkt solcher Arbeiten stehen in der Regel politische, medizinische, demographische, ökologische und gesellschaftliche Diskurse, Praktiken und Techniken in Bezug auf das Leben und den Körper der Bevölkerung in der Moderne, wobei das (auch individuelle) Ziel die fürsorgliche und kontrollierende Produktivität und die Lebenssteigerung von mit positiven Merkmalen besetzten Körpern bzw. das Verhindern von „Negativkörpern“ war und ist. Dabei haben Studien zur Biopolitik und zur Biomacht mittlerweile derart zugenommen, dass man den Eindruck haben könnte, sie dienen generell als monokausales Erklärungsmuster für staatliche, gesellschaftliche und individuelle Diskurse und Verhaltensweisen (zum Körper) in der Moderne.
Jetzt werden auch Jugendbewegung und Lebensreformbewegung – zwei der vielen Reform- und Protestbewegungen der vorvorletzten Jahrhundertwende – unter biopolitischen Aspekten untersucht, wobei – so suggeriert es der Titel des Tagungsbandes – diese Bewegungen nicht etwa auf mögliche biopolitische Gesichtspunkte hin abgeklopft werden, nein: Sie sind sogar angeblich „Avantgarden der Biopolitik“ gewesen und schritten sozusagen in der Biopolitik voran. Das ist – betrachtet man die bisherige Forschungs- und Interpretationsgeschichte zur Lebensreform und Jugendbewegeng – eine ziemlich steile These, und man darf deshalb gespannt sein, wie die Herausgeber und Autoren einen derartigen Paradigmenwechsel aus der bisherigen Forschungsliteratur herleiten, begründen und mit entsprechenden Belegen unterfüttern.
Gleich in ihrer Einleitung lösen sich die Herausgeber des Bandes, Karl Braun, Felix Linzner und John Khairi-Taraki, von den bisherigen wissenschaftlichen Erklärungsmustern zur historischen Funktion der Jugend- und der Lebensreformbewegung und – beide in einen Topf werfend – definieren deren Aktionen und Denkmuster als „Bestrebungen [zur] Hebung der biologischen Qualität“, wobei beide Bewegungen „eines gemeinsam [haben]: Sie dienen biologisch-körperlicher Aufrüstung [und] sie zielen auf ‚vernünftiges Bewirtschaften‘ biologischer Ressourcen.“ (16) Diese Behauptung wird allerdings weder aus den Quellen belegt noch aus der Forschungsliteratur diskutiert und abgeleitet, ja die Forschungsliteratur wird noch nicht einmal am Rande erwähnt. Die bislang gängigen Interpretationen zu den Funktionen der Jugendbewegung – Protest- und Erneuerungsbewegung, Element der wilhelminischen Konfliktgesellschaft, Reaktion auf Wertewandel, Jugend als eigenständige Lebensphase, Jugend als Sinnstiftungselement – und der Lebensreform – rückwärtsgewandte bzw. fortschrittliche Reaktion auf Globalisierung, Modernisierung und Industrialisierung und alternative Außenseiterkultur, bürgerliche bzw. antibürgerliche Protestbewegung, Element im Vergesellschaftungsprozess einer neuen sozialen Schicht – werden weder rekapituliert noch zur Kenntnis genommen. Dagegen werden die Äußerungen und Praktiken beider Bewegungen monokausal als Element einer breiten gesellschaftlichen Furcht vor körperlicher und geistiger „Degeneration“ verstanden und ihre Projekte und Aktionen als praktischer Ausweg aus jener zeitgenössischen biologistischen Furcht aufgefasst, eben als „biopolitisch motivierte Orientierungssuche“ (14 f.).
In den folgenden Aufsätzen, die sich zum Großteil mit – in der Regel bereits bekannten – Vertretern, Organisationen und Periodika der Jugendbewegung und weit weniger mit Protagonisten der Lebensreform befassen, geht es – das ist die inhaltliche Klammer – viel um bürgerliche (und auch unbürgerliche) Sexualität, um Geschlechtermoral und Eros etwa bei Gustav Wyneken (Gabriele Guerra) und Friedrich Muck-Lamberty (Felix Linzner), um sexuelle Aufklärung bei Max Hodann (Karl Braun), um Männerbundtheorien, körperliche Selbstbestimmung und um sexuellen Missbrauch (präzise: Sven Reiß), um Theorien und Praktiken der Körperkultur bei Eugen Diederichs und seinem Verlagsprogramm (Christina Niem) und bei Richard Ungewitter und Gustav Simons (gewohnt quellengesättigt und kenntnisreich: Uwe Puschner), um jugendbewegte Körpertheorien bei Hans Paasche und Hermann Popert (John Khairi-Taraki) und in der Zeitschrift „Der Anfang“ (Vanessa Tirzah Hautmann) und um die Rezeption des Bachofenschen Mutterrechts (Meret Fehlmann). Es geht also um Thematiken des Körpers zwischen sozialistischen und völkischen Bezügen und um Körperentwürfe zwischen und in öffentlichen Gruppen und privaten Befindlichkeiten; mithin um Themen, um die die Jugendbewegten der Zeit ohnehin schon immer kreisten und die auch schon vor diesem Band immer wieder im Fokus der Forschungsgeschichte gestanden haben. Es geht zwar auch um – ebenfalls schon häufig wissenschaftlich behandelte – Themen wie Rassenhygiene und um die Arbeit am völkischen Körper. Aber um Biopolitik und strategische Aufrüstung im Sinne der gängigen Diskurstheorien geht es, wenn überhaupt, dann nur am Rand.
Da der Band ja auch ein Jahrbuch ist, finden sich auch wieder die gewohnt gängigen und wie immer sehr gut informierenden Rubriken „Werkstatt“ (mit weiteren, nicht zur Tagung gehörenden Kurzbeiträgen), „Rezensionen“ (u. a. über Biografien zu Fabian Wehner, Otto Bennemann und Max Himmelheber) sowie die „Rückblicke“ mit den Tätigkeitsberichten des Archivs selbst.