Aktuelle Rezensionen
Dietrich Schulze-Marmeling
Die Bayern-Chronik
Göttingen 2017, Die Werkstatt, 2 Bde., 464 u. 496 Seiten mit zahlr. Abb.Rezensiert von Wolfgang Pledl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.03.2018
Seien wir doch ehrlich: Wer von denen, die sich seit ihrer Jugend nicht nur für Fußball begeistern, sondern sich seit längerem auch intensiv mit der Geschichte der „Fußlümmelei“ bzw. dem Fußball als Kulturphänomen beschäftigen, erinnert sich noch Jahrzehnte später daran, mit welcher Aufstellung ihr Verein bei ihrem ersten Stadionbesuch spielte und wann das entscheidende Tor fiel? Umso erfreulicher, wenn man, so wie ich, dies nun ohne großen Aufwand schwarz auf weiß nachlesen kann: „14.8.1965 1. SP 1860 München – FC Bayern 1:0 (1:0) / Maier – Olk, Beckenbauer, Danzberg, Drescher, Kunstwadl, G. Müller, Nafziger, Koulmann, Brenninger, Ohlhauser / Tor Konietzka (1.) / ZS 44 000“. Und plötzlich wird einem klar: Dies war das erste Spiel des FC Bayern nach dem Aufstieg in die Bundesliga – und das auch noch gegen den großen Lokalrivalen 1860, der bereits in der 1. Minute eindrucksvoll zeigte, wer damals in München fußballerisch die Nummer Eins war. Nachzulesen ist das Ganze übrigens auf Seite 437 des ersten Bandes der im Oktober 2017 erschienenen zweibändigen „Bayern-Chronik“, die in ihrem ausführlichen Anhang nicht nur zahlreiche Mannschaftsfotos und Kurzporträts fast aller Spieler, Trainer und Funktionäre enthält, sondern auch zu jeder seit 1900 gespielten Saison umfangreiches statistisches Material liefert. Wer also – aus welchen Gründen auch immer – eins zu eins wissen möchte, wann der FC Bayern mit welcher Mannschaft gegen wen wie spielte, welche Präsidenten den Verein zu welcher Zeit führten und welche Trainer wann das Sagen hatten, wer die meisten Spiele im Verein oder in der deutschen Nationalmannschaft absolvierte, der wird hier bestens bedient. Aber auch diejenigen Fußballbegeisterten, Sporthistoriker und Kulturwissenschaftler, die vorrangig nicht ihrer Erinnerung auf der Spur sind oder auch nicht detailverliebt wissen wollen, dass der Hamburger SV am 1. Juni 1976 erst in der 90. Minute im Münchner Olympiastadion das Siegtor im Pokalhalbfinale schoss und somit die Bayern aus dem Wettbewerb warf, können hier Neues, Spannendes, Interessantes und Unerwartetes erfahren.
Verfasst wurde das sieben Kilogramm schwere, 960 großformatige Seiten umfassende und mit rund 2500 Bildern ausgestattete Werk von dem renommierten Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling, der seit 1997 über den FC Bayern schreibt und dessen mehrmals aufgelegtes Buch „Der FC Bayern und seine Juden“ von der Deutschen Akademie für Fußballkultur zum Fußballbuch des Jahres 2011 gewählt wurde. Mit kleineren, exkursartigen Beiträgen unterstützten ihn dabei mitunter so ausgewiesene Fachleute wie Elisabeth Angermair und Anton Löffelmeier vom Münchner Stadtarchiv, Andreas Wittner von der „FC Bayern Erlebniswelt“, Armin Radtke vom „Bayern-Magazin“ oder Florian Kohnke, der schon seit vielen Jahren intensiv über den FC Bayern forscht.
Ganz selbstverständlich setzt die Darstellung mit einer Abbildung der Gründungsurkunde und mit dem im Wortlaut wiedergegebenen Protokoll der Vereinsgründung vom 27. Februar 1900 im Münchner Weinhaus Gisela ein, schreitet dann chronologisch Jahr für Jahr voran, um schließlich am 17. Mai 2017, dem letzten Spieltag der Saison 2016/17 zu enden. Diese lineare Erzählung wird allerdings durch vielfache Einschübe unterbrochen, die ganz unterschiedliche Themen behandeln und somit viel Platz für Informationen bieten, die das Narrativ ergänzen, erläutern, vertiefen oder in einen größeren Zusammenhang stellen. So finden sich hier beispielsweise zahlreiche umfassendere Porträts von Vorsitzenden, Trainern und Spielern, die den Verein besonders prägten, sowie kleinere, selbständige Abhandlungen zu Themen wie „Die Familie Landauer – Aufstieg aus den Judenhäusern“, „Die Neuordnung des deutschen Sports nach 1933 und die Einführung der Gauliga“, „Bundesliga ohne den FC Bayern“, „Lokalrivalen FC Bayern und TSV 1860: Rote und Blaue“, „Bayern gegen Werder, Hoeneß gegen Lemke“, „19. Mai 2012 – ‚Drama dahoam‘“ oder „Der Triumph von Rio – Weltmeister mit sieben Bayern“, aber auch Abbildungen sämtlicher Vereinslogos seit 1900 und sämtlicher Vereinstrikots seit 1961, der wildesten Spieler-Tattoos oder von Autogrammkarten aus den Jahren von 1980 bis heute. Dank dieser Montagetechnik und inhaltlichen Ausweitung kann man das Werk somit auch wie ein Handbuch benutzen – muss es also nicht Seite für Seite von vorne bis hinten lesen, sondern kann sich auch ganz gezielt einer bestimmten Zeit, einer Person oder einem speziellen Thema widmen, um darüber Näheres zu erfahren.
Natürlich liegt der Schwerpunkt des Buches auf der sportlichen Geschichte des FC Bayern – also, kurz gesagt, darauf, wann und von wem der Verein gegründet wurde, wo er anfangs beheimatet war und von wem er damals unterstützt wurde, wie er nach dem Ersten Weltkrieg zur nationalen Spitze aufstieg, erstmals Deutscher Meister wurde und seine ersten internationalen Schritte tat, wie die sogenannte „Goldene Generation“ um Sepp Maier, Franz Beckenbauer und Gerd Müller den Verein in den 1970er Jahren groß machte und wie er danach ins Mittelmaß zu versinken drohte, bevor Uli Hoeneß als blutjunger Fußballmanager kam und den Verein zu dem machte, was er heute ist. Das alles wird, wie gesagt, detailliert beschrieben, mit Statistiken untermauert und mit zahlreichen Bildern illustriert, von denen viele hier erstmals publiziert werden. Und diese Erzählung wird, wie ebenfalls schon erwähnt, regelmäßig durchbrochen von Biografien, Berichten von „historischen“ Spielen, Analysen der im Laufe der Jahre immer wieder wechselnden Spielphilosophien und Spielsysteme sowie diversen Sonderthemen, die primär nicht mehr in der Welt des Fußballs angesiedelt sind, sondern weit darüber hinausgehen, ja sogar die gesellschaftliche Wirklichkeit in all ihren Schattierungen widerspiegeln. Erinnert sei hier nur daran, dass sich Dietrich Schulze-Marmeling als erster intensiv mit der Geschichte der Juden im Verein beschäftigte, die Jahrzehnte lang komplett verschüttet war, inzwischen jedoch sowohl bei den Klubverantwortlichen als auch bei den Fans auf großes Interesse stößt – und somit auch in diesem Buch entsprechend ausführlich gewürdigt wird.
Kaum erwähnt, nämlich nur auf zwei Seiten ganz am Schluss, ist hingegen der Frauenfußball beim FC Bayern, obwohl die Frauenfußballabteilung bereits seit 1970 besteht, viele Spielerinnen der Bayern in die Nationalmannschaft berufen wurden und dort große Erfolge feierten und die Frauenmannschaft des FC Bayern schon mehrfach Deutscher Meister und Pokalsieger wurde. Schade – hier wäre mehr drin gewesen