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Wibke Backhaus

Bergkameraden. Soziale Nahbeziehungen im alpinistischen Diskurs (1860-2010)

(Geschichte und Geschlechter 67), Frankfurt am Main/New York 2016, Campus, 333 Seiten mit 8 Abb.
Rezensiert von Peter Grupp
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.03.2018

Der Topos der „Bergkameradschaft“ gehört zu den am weitesten verbreiteten, aber auch abgegriffensten Klischees, obwohl alle, die sich in Praxis oder Theorie mit dem Bergsteigen beschäftigt haben, wissen, wie fragwürdig diese Kameradschaft sein kann, und obwohl das mit ihr eng verbundene Bild der „Seilschaft“ auch in einer breiteren Öffentlichkeit meist eher zwiespältige Gefühle weckt. Da muss es sehr willkommen sein, wenn diese vielbeschworene Bergfreundschaft einmal einer seriösen wissenschaftlichen Analyse unterzogen wird.

Diesem Desiderat kommt Wibke Backhaus in ihrer methodologisch und theoretisch sehr anspruchsvollen Freiburger Dissertation nach, deren Ziel es ist, „über die Analyse der Verhandlungen sozialer Nahbeziehungen in alpiner Literatur Konstruktionsprozesse von Geschlecht und Geschlechterhierarchien in ihrer Interdependenz diskursanalytisch nachzuvollziehen“ (53). Sie will den Wandel „alpinistischer Gemeinschaftsentwürfe“ (15) und der „Konzeptionen von Freundschaft am Berg“ (16) aufzeigen und bei ihrer Analyse die Gender-Problematik, d. h. die „Frage nach der Vergeschlechtlichung der alpinen Freundschaftserzählung“ (10), ins Zentrum stellen und die traditionelle Auffassung der männlichen Konnotation des Bergsteigens überprüfen.

Die sehr ausführliche Einleitung legt Forschungsstand und Arbeitsziel dar und geht auf Themen wie „Alpinismus und Moderne“, „Krisen der Männlichkeit“, „Freundschaft und Geschlecht“ ein, wobei eine souveräne Beherrschung der einschlägigen Literatur und der theoretischen Debatten unter Beweis gestellt und der weitere Rahmen skizziert wird, in dem sich die vorgelegte Arbeit bewegt. Es folgen Überlegungen zu Problemen der Diskursanalyse und die Darlegung des für die Analyse ausgewählten Materials. Dieses besteht aus 83 deutschsprachigen „Bergbüchern“, d. h. Tourenberichten und Autobiographien bekannter Bergsteiger, meist populäre Klassiker des Genres, einschließlich deutscher Übersetzungen  fremdsprachiger Publikationen. Diese Beschränkung auf Deutschsprachiges und auch die zeitliche Eingrenzung unter Auslassung der vorausgehenden Jahrhunderte der Geschichte des Alpinismus hätten möglicherweise etwas stärker problematisiert werden können. Zumal der Einbezug von Publikationen etwa britischen Ursprungs erscheint angesichts des Unterschiedes der sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe diskussionswürdig. Gewisse Probleme hat der Rezensent mit der gendergerechten Terminologie, über die auch die Autorin selbst gestolpert ist. Der Mut, im Titel von „Bergkamerad/innen“ zu sprechen, hat wohl gefehlt (15, Anm. 3). Wenn man „Tourist/innen und Wissenschaftler“ (23) liest, fragt man sich schon, ob es sich um einen Druckfehler oder eine bewusst durchdachte Entscheidung handelt; und was ist von „Jüd/innen“ (127) zu halten?

Der etwas strapaziösen Einleitung folgt der wesentlich lesbarere und konkretere Hauptteil, der auch für ein breiteres Publikum, das grundsätzlich am Thema interessiert ist und sich durch die Masse der gängigen Bergliteratur unterfordert fühlt, akzessibel ist. In sechs chronologisch angeordneten Kapiteln, werden Entwicklung und Wandel der sozialen Nahbeziehungen aufgezeigt und analysiert. Das erste setzt mit dem Goldenen Zeitalter des Alpinismus um 1860 ein und umfasst die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Danach werden die 1930er Jahre mit dem Blick auf den Nationalsozialismus, die 1950er als Periode des Wiederbeginns sowie die unausgesprochen in der Folge der 68er-Ereignisse stehende Zeit um 1980 in den Blick genommen; ein Schlusskapitel gilt der Jahrtausendwende.

Zum Inhalt können hier nur kurze Stichworte gegeben werden: Für die Anfangszeit wird vor allem die Beziehung zwischen Touristen und Bergführern thematisiert. Dieses Verhältnis von Ungleichen wird mit dem Aufkommen der Führerlosen durch die Seilschaft und das gemeinsame Suchen und Bestehen von Risiken auf Grundlage besonderer Freundschaft Gleichgestellter abgelöst. Beide Verhältnisse sind geprägt von der Spannung zwischen Konkurrenz und Kooperation, die sich ganz allgemein wie ein roter Faden durch die gesamte Entwicklung zieht. Charakteristisch für diese Phase ist im Übrigen die Unsichtbarkeit der Frau in der alpinistischen Literatur. Mit dem Ersten Weltkrieg wird die bergsteigerische Männerfreundschaft kriegerisch aufgeladen und die Begrifflichkeit wechselt von der Freundschaft zur Kameradschaft, die auch den alpinistischen Diskurs der 1930er Jahre prägen wird. Dabei kontrastiert das Idealbild des Soldaten mit dem des Bergvagabunden, und es ergibt sich die Schwierigkeit, die militärisch und national befrachtete  männliche Kameradschaftserzählung mit der Präsenz der „Bergkameradin“ und, bei den Himalaja-Expeditionen, der „Trägerkameraden“ zu vereinen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgt eine „Reformulierung der Kameradschaftsidee“ (201) mit Brüchen und Kontinuitäten und dem Auftauchen der neuen Elemente „Völkerfreundschaft“ und „Leiden“ sowie dem Einbruch des Individuellen bei weiter bestehendem Ausschluss der Frauen und intakter männlicher Geschlechterkodierung. Um 1980 wird eine stark von Reinhold Messner geprägte „gegenkulturelle Wende im Bergsport“ (203) diagnostiziert. Sie bringt den „Bruch mit dem Kameradschaftsideal“ und ein neues Modell der „Selbstfindung am Berg“ seitens des autonomen Individuums. Das Modell bleibe indes männlich, wird aber als Reaktion auf Angriffe durch den „alpinistischen Feminismus“ erklärt. Das letzte Kapitel kreist wie die beiden vorangehenden entschieden zu stark um das Höhenbergsteigen im Himalaja unter Ausschluss der anderen zahlreichen Spielarten des Alpinismus, wodurch u. a. eine Bergsteigerin wie Lynn Hill völlig ignoriert wird, die 1993 mit der ersten freien Durchsteigung der Nose-Route am El Capitan im Yosemite-Tal in Kalifornien eine Leistung vollbracht hat, an der die besten männlichen Bergsteiger gescheitert waren. Für diese Periode kann u. a. beobachtet werden, wie ein Teil der Männer das Autonomieparadigma in Frage stellt, während es gleichzeitig von einigen Frauen übernommen wird.

Im Kapitel „Abschließende Überlegungen“ zieht die Autorin ein Fazit ihrer Untersuchungen. Dabei hebt sie die „hohe Wandelbarkeit dessen, was Freundschaft am Berg bedeuten kann“ (283), sowie den „umkämpften Charakter alpinistischer Identitäts- und Gemeinschaftsentwürfe“ (287) hervor. Sie betont den „exklusiven Charakter der Freundesgruppen“, der die Ausgeschlossenen eher ignoriert denn benennt, bei gleichzeitiger Behauptung einer universalen Gültigkeit der eigenen partikularen Werte (286 f.). Vier Spannungsfelder werden identifiziert: Autonomie des Individuums gegen die Gruppe, Konkurrenz gegen Unterstützung, Gleichheit gegen Hierarchie sowie Abenteuer gegen Rücksicht auf die Familie. Bei all dem bleibe die „Assoziation von Bergsteigen mit Männlichkeit“ weitgehend bestehen, obwohl die Männerdominanz im Bergsport nie unangefochten und absolut gewesen sei (290). In diesem Zusammenhang reflektiert Backhaus auch Art und Grenzen der eigenen Arbeit.

Ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie, statt eines Personenindexes, ein sehr willkommenes und nützliches „biographisches Verzeichnis“, in dem circa 100 bekannte Bergsteiger und Bergsteigerinnen aus dem gesamten Zeitraum mit teilweise recht ausführlichen biographischen Angaben vorgestellt werden, runden den Band ab.

Insgesamt bringt Backhaus‘ minutiöse Diskursanalyse eine fraglos wertvolle Ergänzung und Erweiterung der sich anderer Methoden bedienenden traditionellen alpinhistorischen Forschung, wenn man ihren Deduktionen in ihrer Zuspitzung auch nicht immer vorbehaltlos folgen mag. Deutlich wird en passant, wie die Vorgänge im Alpinismus letztlich die allgemeine gesellschaftliche Situation der jeweiligen Zeit widerspiegeln. Auch so gesehen ist der Alpinismus also nicht das Besondere, für das er sich manchmal hält.