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Mirko Uhlig
Schamanische Sinnentwürfe? Empirische Annäherungen an eine alternative Kulturtechnik in der Eifel der Gegenwart
(Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 13), Münster/New York 2016, Waxmann, 559 Seiten mit 6 AbbildungenRezensiert von Kathrin Fischer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 13.03.2018
Forschungen, insbesondere Feldforschungen, im Bereich Schamanismus waren lange ein klassisches Feld der außereuropäischen Ethnologie. Im Umdenken und dem Wechsel des Faches Volkskunde hin zu einer modernen europäischen Ethnologie sind neue Forschungsfelder in den Fokus gerückt - so auch die Erforschung des Schamanismus und die Hinwendung zu alternativen Heilmethoden in Europa. Ethnographische Erhebungen im Bereich der Ethnologie sind hier die Grundlage zur Erforschung alternativer Glaubensformen und Kulturtechniken. Nicht nur, dass in der westlich-urbanen Gesellschaft eine Abkehr von der klassischen „Schulmedizin“ zu beobachten ist, wir erkennen zudem eine Hinwendung zu alternativen Heilmethoden, deren Techniken und Methoden. Menschen in prekären Lebenssituationen begeben sich auf die Suche nach neuen Wegen, um Hilfe oder gar Heilung zu erlangen.
Diesem Thema widmet sich die hier vorliegende Arbeit – eine an der Universität Mainz eingereichte Dissertationsschrift - von Mirko Uhlig und gibt einen vertieften Einblick in alternative Kulturtechniken des Schamanismus. Die Eingrenzung des Themas ist geographisch gefasst: Die Untersuchung bezieht sich auf die Eifel.
Der Autor begreift das Fach Volkskunde als „Erfahrungswissenschaft von Alltagserfahrungen [...] gleich einem unbeschriebenen Blatt und ohne selbst Impulse zu geben in den zwischenmenschlichen Austausch“ (9). Die Störungen des Alltags, die er wahrnahm, das „Stolpern“ (9), führte ihn in oder besser gesagt zu seinem Forschungsfeld: zuerst ein witziger Rat einer Kollegin, sich dem Schamanismus in der Eifel zuzuwenden, dann eine Kontaktperson, die erzählte, dass sich die Mutter die Zukunft lesen ließe, eben von einem Schamanen in der Eifel, und letztlich ein ehemaliger Lehrer und Verwandter, der einen systematischen Erklärungsansatz für angeblich irrationale Überbauten aufstellte.
Die Arbeit teilt sich in vier große Bereiche auf. Im ersten Teil widmet sich Mirko Uhlig, neben der Einführung und Erläuterung seines Erkenntnisinteresses, dem Schamanismus sowie der Eifel. Er führt den Leser sozusagen durch die Geschichte und Rezeption des Schamanismus und schamanistischer Erfahrungen, indem er einen Überblick vom 17. bis ins 19. Jahrhundert gibt, um sich dann der Frage der „Eliadisierung der Schamanenfigur“ zu widmen (31 ff.). Er bearbeitet den problematischen Ansatz von Mircea Eliade, der sibirische Schamanismus stehe in Verbindung mit den unterschiedlichen Glaubensformen der nordischen Mythologie. Dabei beleuchtet Uhlig den daraus entstandenen wissenschaftlichen Diskurs, zum Beispiel zwischen Ioan Myrddin Lewis, Terry Alliband und Klaus E. Müller (32). In diesem Zusammenhang führt der Autor auch an, dass Clifford Geertz „scharfe Kritik am –ismus-Gebrauch“ übte (33). Die Ethnologie habe laut Uhlig den Schamanismus bisher eher stiefmütterlich behandelt. Es folgt eine ausführliche Definition des Terminus „Gegenwartsschamanismus“, die dem Leser einen fundierten Einblick in die wissenschaftliche Debatte und den Forschungsstand eröffnet.
Bevor sich Uhlig dem Forschungsfeld Eifel widmet, das er präzise erläutert, beschreibt er noch sein methodisches Vorgehen. Die Auswahl der Interviewpersonen erfolgte „eher minimalistisch“ (42), was bei einem solchen Untersuchungsfeld durchaus erlaubt, sogar sinnvoll ist, wie Uhlig richtig vermerkt: „Durch einen zunächst partikulären Blick eröffnen sich also etliche weitere unterschiedliche Dimensionen im thematischen - und vor allem empirisch registrierbaren – Nahbereich.“ (43)
Das Einführungskapitel schließt mit einer näheren Beleuchtung der Fragen nach der Präsentation der erhobenen Daten, dem Umgang mit der Rolle im Feld, den Erfahrungen und den Grenzen ab. Sehr schön umschreibt der Autor dies wie folgt: „Die Möglichkeiten (oder Gefahr, je nach Sichtweise), als Ethnograph getäuscht und/oder vorgeführt zu werden, besteht immer.“ (67)
Das besonders umfangreiche zweite Kapitel „Ausführungen I – Ratgeber“ umfasst 18 Fallbeispiele unterschiedlichster Couleur. Die Interviews wurden alle in einem Zeitraum von 2011 bis 2015 erhoben, der Hauptteil davon im Jahr 2012. Eine kleine Einführung, wie mit dem Material umgegangen wird, eröffnet das Kapitel. Akribisch und sehr dicht werden die Daten im Fließtext dargestellt. Kleine Kapitelüberschriften, oftmals als Interrogativsatz formuliert, unterteilen die dichte Beschreibung. Über einen biographischen Einstieg und die Definitionserhebung, was Schamanismus sei, nähert Mirko Uhlig sich den Heilverfahren und -techniken. Durch die breite Streuung von Vorstellungen und Kulturtechniken des sogenannten westlichen Schamanismus ergibt sich aus den Interviews eine extreme Bandbreite, die es dem Leser teilweise erschwert, das Thema für sich noch fassbar zu machen. Vielleicht hätten weniger Interviewbeispiele mehr Stringenz und Klarheit gebracht. Eine kurze Zusammenfassung am Ende des großen Kapitels wäre für die Lesbarkeit und ein tieferes Verständnis des Lesers sicher hilfreich gewesen.
Das dritte Kapitel „Ausführungen II – Ratsuchende, Hilfesuchende & Interessierte“ umfasst drei Fallbeispiele und zwei gesonderte Interviewteile, die aus dem dritten Fallbeispiel stammen. Das Kapitel endet mit einem Bericht über ein gemeinsames Schwitzhüttenwochenende (466 ff.), in dem Mirko Uhlig mit viel Humor und Selbstironie einen gelungenen Einblick in eine der Kulturtechniken des Heilens gibt.
Im vierten Kapitel „Zusammenführung“ problematisiert der Autor knapp, aber treffend die Fragen nach Deutungssinn und Deutungsgrenzen (478 ff.). Er führt folgerichtig an, dass es sich lohnt im Kopf zu behalten, welchen Deutungssinn die Ethnographie eröffnet und wie damit umzugehen ist. Das Problem der emischen Perspektive kann auch ein Trugschluss sein, der sich durch die erst im „ethnographischen Dialog geschaffene emische Perspektive“ entwickelt (479). Demnach sei die in vorliegender Arbeit abgebildete Binnenperspektive kein Original in Susan Sontags Sinn, sondern ein „mehrperspektivisches Konstrukt“ (479). Folglich widmet er sich auch der Frage, wo sich die Deutungsgrenzen in der Ethnologie eröffnen. Deutungsgrenzen seien bewusst gezogene Grenzen, „um sich von unvertretbar erscheinenden Interpretationen anderer abzusetzen“ (479). Diese Unverbindlichkeit der Ethnologen und die Gefahr der tiefenpsychologischen Deutungen des Feldes will Uhlig aus der wissenschaftlichen Betrachtung einer Ethnographie ausgeschlossen wissen. Insbesondere seine Ausführungen in diesen beiden Unterkapiteln sind die Essenz der vorliegenden Arbeit.
Mirko Uhlig wagt es, sich der klassischen Herangehensweise der Ethnologie im Feld zu widersetzen, und denkt neue, andere Wege, die er wissenschaftlich fundiert mit einer reichen Kenntnis des Fachdiskurses untermauert. Solche Abschlussarbeiten sind für eine Weiterentwicklung des Faches und eine lebendige Diskussion, wie die Ethnologie mit dem Feld, den Menschen und der Wissenschaft weiter verfahren möchte, unabdingbare Grundlage. In seinem Ausblick sucht Uhlig neue Möglichkeiten, das Feld zu vertiefen und auch von differenten Seiten zu beleuchten. Eine ausführliche Bibliographie mit den wichtigen und auch kritischen Werken des Faches und der Nachbarfächer ermöglicht dem Leser, sich weiter in das Thema einzulesen und einzudenken.
Mit der vorliegenden Arbeit ist Mirko Uhlig ein wichtiger Beitrag zum Fach gelungen. Nicht nur die akribische Erhebung von Daten im Feld, der grundsolide Umgang mit den interviewten Personen und der Ethnographie, sondern auch besonders das In-Frage-Stellen des Faches und der eigenen Person, gekoppelt mit Lösungsvorschlägen, gibt dieser Arbeit eine besondere Note.