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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Sebastian Weinert

Der Körper im Blick. Gesundheitsausstellungen vom späten Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus

 (Ordnungsysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 50), Berlin/Boston 2017, De Gruyter Oldenbourg, VIII, 442 Seiten mit Abb.
Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.03.2018

Seit mehreren Jahrzehnten gehört Körpergeschichte zum festen Bestandteil der historischen Wissenschaften und wird als Gegenstand zwischen etlichen theoretischen Ansätzen und konkreten Themen- und Praxisfeldern erforscht. Wer sich heute an eine Körpergeschichte (selbst nur der klassischen Moderne) wagt, der muss daher nicht nur eine breite Palette von Diskurs-, Wissenschafts-, Wissens- und Alltagsgeschichte im Auge haben, sondern darüber hinaus auch ein substantielles, noch weitgehend unbearbeitetes Thema beackern und es dazu noch gewinnbringend in den gegenwärtigen körpergeschichtlichen Kontext einfügen. Er muss also den ausgesprochen reichhaltigen Forschungsstand zusammenfassen, ihn konstruktiv fortführen und neue wissenschaftliche Wege beschreiten. Gerade im ausgehenden 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war der Körper in besonderem Maße Gegenstand öffentlicher und fachlicher Diskurse. Das 19. Jahrhundert erbrachte mit dem Aufstieg der Industrialisierung und der Medizin- und Naturwissenschaften – und auch mit dem Sport und der Sportwissenschaft – neue Erkenntnisse über den Körper, seine Funktionen und Reaktionen, seine präventiven und rehabilitativen Kategorien und seine Möglichkeiten, ihn politisch und gesellschaftlich sowohl kollektiv als auch individuell als integratives und deviantes Element von Staats- und Sozialauffassungen außerordentlich breit einzusetzen. Von der Gesundheitspolitik über angewandte Sozialwissenschaft – d. h. Demografie, Eugenik und Wehrwissenschaft – und von der individuellen Freizeitgestaltung und Selbstvergewisserung bis zum privaten Identitätsvehikel: Der Körper rückte massiv ins Zentrum der Gesellschaft und wurde zum zentralen Gegenstand zeitgenössischer Theorien und Praktiken, Auffassungen und Zurichtungen und des Sprechens darüber, eben der Diskurse.

Körper und Gesellschaft wurden miteinander verkoppelt und gehören somit thematisch eng zusammen: Somit handelt auch diese Studie über die historischen Gesundheitsausstellungen zwangsläufig „in ihrem Kern von der Gesellschaft. Sie handelt davon, wie im Deutschen Reich über den Körper gesprochen, wie dadurch Heterogenität definiert und gleichzeitig Devianz sprachlich hergestellt wurde. Sie fragt, wie die Gesellschaft [...] Andersartigkeit definierte und entlang welcher Differenzkategorien sich Prozesse der Integration oder Ausgrenzung entfalteten.“ (3)

Der Autor Sebastian Weinert, der seine Dissertation bei dem vor kurzer Zeit verstorbenen Wissenschaftshistoriker Rüdiger vom Bruch und bei dem Historiker Uwe Puschner, beide Berliner Wissenschaftler mit hoher Affinität zum Thema, verfasst hat, hat sich für seine zentrale Studie über den Körper in der klassischen Moderne folgerichtig einer bedeutenden Schnittstelle der zeitgenössischen Körperdiskurse angenommen: den damals nicht ohne Grund äußerst populären Gesundheits- und Hygieneausstellungen. Weinert formuliert dabei drei zentrale Thesen: Das Sprechen über den Körper beeinflusste erstens politische und soziale Handlungen und Handlungschancen zwischen Normalität und Ausgrenzung und zwischen Individualität und Kollektivismus. Die Körperdiskurse verliefen zweitens nicht gleichförmig und narrativ linear (auf den Nationalsozialismus zu), sondern wurden von ganz verschiedenen Akteuren und Gruppen sehr unterschiedlich und mit differenzierten Zielen und differenziertem Vokabular formuliert. Und es waren – drittens – gerade die Gesundheits- und Hygieneausstellungen, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts genau dieses Diskursforum repräsentierten und zugleich mit seinen insgesamt 7,5 Millionen Besuchern die Inhalte und Strategien des Diskursfeldes breit rezipierbar machten. Daher eignen sich die Ausstellungen vorbild- und beispielhaft für eine körperhistorische Diskursanalyse, die sich gerade der Körperdiskurse der klassischen Moderne annimmt. Dazu kommt, dass es zwar Studien zu einzelnen Hygieneausstellungen jener Zeit gibt, aber bislang weder Untersuchungen zu den vielschichtigen Körperdiskursen der einzelnen Ausstellungen noch eine entsprechende Gesamtdarstellung (11 f.).

Sebastian Weinert geht in seiner Studie sehr systematisch und gründlich vor. Zunächst gibt er einen Überblick über das zeitgenössische Hygieneausstellungswesen und die Ausstellungen selbst: die Erste Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911, die Düsseldorfer Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (GeSoLei) 1926, die Zweite Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1930/1931 sowie die Ausstellungen des „Dritten Reiches“ „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“ von 1934, „Wunder des Lebens“ von 1935, „Deutschland“ von 1936 und „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“ von 1938. Danach analysiert der Autor die Akteure und Organisatoren der Ausstellungen, ihre Motive, Objekte und ihr Personal sowie ihre Konflikte und ihr Selbstdarstellungspotential im Rahmen eines übergeordneten diskursiven Netzwerkes zwischen Repräsentation, Aushandlung und Erfahrung. Schließlich kommt Weinert zu dem Kernstück seiner Arbeit, in dem er die wesentlichen und ineinander verschränkten Körperdiskursthemen der Zeit – vermessene, leistende, ästhetische und genormte Körper – klassifiziert und analysiert. In einem Fazit schließlich zieht Weinert Bilanz: Zwar waren die Ausstellungen grundsätzlich immer Orte, an denen Bewertungs-, Klassifizierungs-, Funktions- und Handlungsmaßstäbe für Körper gesetzt wurden, zwar wurden hier Körper in ihrem Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv und Individuum und zwischen Integration und Ausgrenzung verhandelt. Aber diese großen Volksbelehrungen vermittelten nicht ein einseitiges und einhelliges Bild, sondern sie waren auch geprägt durch die Körperbildkonkurrenzen verschiedenster Aussteller wie etwa zwischen Brauereigewerbe und Antialkoholbewegung, zwischen Naturmedizin und Schulmedizin oder zwischen Industrie und Sport. Letztlich jedoch ging es immer um eine Auseinandersetzung zwischen Kollektiv und Individuum: „Über alle Expositionen hinweg wurde der Körper in Beziehung zum ‚Volkskörper‘ gesetzt, wurden die Rechte des Bürgers im Hinblick auf die Ansprüche des Kollektivs verhandelt. Insbesondere die Ausbreitung eugenischen wie rassenhygienischen Denkens auf den Ausstellungen zeigt, dass damit immer eine Grenzziehung zwischen Zugehörigkeit und Ausschluss einher ging.“ (373)

Sebastian Weinert analysiert sein Thema mit großer Umsicht und breitem Blick. Er tut das alles unter Einschluss äußerst umfangreicher Sekundärliteratur, unter Einbezug einer Vielzahl an gedruckten Quellen und unter ausgiebiger Nutzung etlicher in- und ausländischer Archive. Damit ist seine Studie außerordentlich anschlussfähig an eine Vielzahl von Themen der aktuellen Körpergeschichtsforschung.